Originalarbeit: Gesundheit ist nicht nur „Kostenfaktor“

25.04.2011 | Politik

Alle Ressorts – nicht nur der Gesundheitssektor per se – tragen Verantwortung dafür, dass die Förderung von Gesundheit gerade in der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise ein volkswirtschaftlich produktives Potential ist. Gesundheit darf daher nicht länger lediglich als zusätzlicher „Kostenfaktor“ betrachtet werden. Public Health ist die Antwort auf diese gesamtgesellschaftliche Herausforderung.
Von Armin Fidler*

Nach Ansicht vieler Experten befinden wir uns an einem Wendepunkt für das Gesundheitswesen: Hinter uns liegen die Paradigmen des 19. und 20. Jahrhunderts, die neben dem medizinischen Fortschritt auch den Zugang zur medizinischen Grundversorgung gewährleistet haben. Ein Resultat dieses medizinischen, medizinisch-technischen und pharmakologischen Fortschritts war aber auch der Glaube, gewisse Pathologien völlig kontrollieren, wenn nicht sogar eliminieren zu können.

Bittere Erfahrungen damit und neue wissenschaftliche Erkenntnisse um den holistischen Krankheitsbegriff zeigen, dass wir uns vermehrt auf gesellschaftliche und soziale Determinanten der Gesundheit konzentrieren müssen – und das ist eine der Hauptaufgaben von Public Health. Die Auffassung von Public Health hat sich gewaltig erweitert: Wir verstehen jetzt besser, wie soziale oder sogar genetische Merkmale des Individuums den Gesundheitsstatus direkt beeinflussen können und wir wissen um globale, epidemiologische und demographische Determinanten, die auf die Gesundheit der Gesamtgesellschaft Einfluss nehmen. Das inkludiert auch Sektoren-übergreifende Problemstellungen wie Armut, Migration oder Klimawechsel.

Im Kontext der Globalisierung ist auch die internationale politische Stellung von Public Health gestiegen und die Relevanz von Gesundheit für die globale ökonomische Entwicklung wird immer besser verstanden. In der Werteskala von Bürgern kommt der Stellenwert der Gesundheit in den meisten Ländern immer mehr zum Tragen. Zusätzlich gibt es neue Herausforderungen für das öffentliche Gesundheitswesen, wie etwa die demographische und epidemiologische Transition. Das Problem der alternden Gesellschaften ist eine nicht mehr aufzuhaltende Entwicklung, die gravierende Auswirkungen auf die Gesundheits- und Sozialsysteme der betroffenen Länder hat.

Außerdem stecken wir in einer Krise der nationalen und internationalen Gesundheitsfinanzierung und sind mit Engpässen konfrontiert, die den Zugang, die Fairness, die Qualität und die Nachhaltigkeit von Gesundheitssystemen limitieren. Sollten es die Länder nicht schaffen, die derzeitige finanzielle Krise zu meistern, wird möglicherweise die soziale Solidarität auf dem Spiel stehen. Parallel dazu erleben wir die permanente globale Gefahr und hohen ökonomischen Kosten von neuen, bisher unbekannten Erregern, die Epidemien und Pandemien verursachen, wie schon AIDS, SARS, Vogelgrippe und H1N1 gezeigt haben. Das sind epidemiologische und ökonomische Herausforderungen, die Länder, supranationale Organisationen wie die EU aber auch internationale Organisationen wie die WHO an den Rand ihrer Kapazitäten bringen.

Unsere Gesellschaft kämpft gegen einen rapiden Anstieg von chronischen Pathologien, inklusive psychischen Erkrankungen, die nach Sicht der WHO in den „Burden of Disease”-Studien den höchsten Rang einnehmen und eine gewaltige potentielle Kostenfalle darstellen. Parallel dazu finden wir in unserer Gesellschaft eine höhere Inzidenz – und vielleicht auch eine höhere Toleranz – für soziale Ungleichheit im Gesundheitsbereich. Unser Wissen um Gesundheitsdeterminanten – sowohl genetische als auch Verhaltens-gesteuerte
Determinanten – kompliziert außerdem unsere Gesundheitspolitik und die bestmögliche Verteilung von Ressourcen. Wir sollten auch nicht die immer weiter steigenden Erwartungshaltungen von Konsumenten vergessen, vor allem wenn es um Qualität und Zugang zum Gesundheitssystem geht.

Unsere Gesundheitssysteme sind auch mit internen technischen Herausforderungen konfrontiert – wie zum Beispiel komplexe, invasive, teure und oft ethisch fragwürdige medizinische Technologie. Informationstechnologie, wie sie im Gesundheitswesen verwendet wird, wird in weiten Bereichen der Bevölkerung mit Misstrauen betrachtet und kämpft zudem mit technischen Problemen in ihrer Implementierung. Fast tägliche Neuerungen in der Pharmakologie, der Biotechnologie und der Genetik bereiten den im Gesundheitsbereich tätigen Politikern Kopfzerbrechen. All diese komplexen technischen Entwicklungen und sozialen Interaktionen machen es erforderlich, eine neue Sichtweise in der Gesundheitspolitik anzudenken.

In einer aufgeklärten und demokratischen Gesellschaft müssen gesellschaftliche Ziele generell, aber besonders in der Gesundheitspolitik, nicht nur von Technokraten, sondern auch von Bürgern artikuliert und verstanden werden – das inkludiert Patientenrechte, die Beteiligung an der Entscheidungsfindung und die persönliche Gesundheitskompetenz. Das sind Ziele, die im weiteren Sinne auch so in der neuen EU-Gesundheitsstrategie formuliert sind. Um das umzusetzen, brauchen wir: a) ein besseres Verständnis für soziale Gesundheitsdeterminanten; b) die Anerkennung der Gleichheit im Zugang zum Gesundheitswesen und c) langfristige Nachhaltigkeit im gesundheitsökonomischen Bereich. Um solche Ziele besser artikulieren und realisieren zu können, müssen nach internationaler Erfahrung nicht nur Gesundheitsexperten und Gesundheitspolitiker, sondern vielmehr alle Sektoren und Regierungsbereiche in die Diskussion eingebunden werden. Das bedeutet aber auch, dass neue Verbindungen und Partnerschaften, weit über den traditionellen Gesundheitssektor hinaus geknüpft werden müssen. Um so ein modernes Public Health-Konzept in die politische und technische Realität umsetzen zu können, braucht es neue Institutionen und soziale Innovationen und nicht nur die Eskalation von modernen und teuren diagnostischen und kurativen Technologien. Die Verhaltensökonomie und auch die Evidenz aus mehreren Ländern, die Vorreiter für so eine engagierte Gesundheitspolitik waren, zeigen, dass die Umsetzung dieser ambitionierten Ziele entsprechende politische und ökonomische Stimuli braucht.

Durch die ökonomische Krise steigt der Druck auf Regierungen, Kapazität und Performance anzukurbeln. Um das zu erreichen, kann man mit reduzierten Budgets nur neue administrative Praktiken einführen oder neue strategische Querverbindungen schaffen – oft mit Akteuren, die bisher nichts mit dem öffentlichen Bereich oder dem Gesundheitswesen per se zu tun hatten. Das heißt, dass es bessere Koordination mit Partnern nach außen – und einen neuen intersektoriellen Fokus und Koordination innerhalb des Regierungskabinetts geben muss. Dieser Sektoren-übergreifende Ansatz ist erforderlich, um wichtige Gesundheitsziele umsetzen zu können und messbare und reproduzierbare Ergebnisse zu erzielen. Andere Politikbereiche spielen dabei eine wichtige Rolle, wie etwa die Regional-, Forschungs- und Umweltpolitik, Arzneimittel- und Lebensmittelvorschriften, die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit sowie die Mitarbeit von Finanzministerien (Steuern und Abgaben) für gesundheitspolitische Interventionen. Nur wenn Synergieeffekte zwischen all diesen für die Gesundheit so wichtigen Bereichen voll genutzt werden, kann eine Ergebnis-orientierte Gesundheitspolitik auf nationaler und internationaler Ebene erfolgreich sein. Die Globalisierung im Bereich der Gesundheit hat nämlich zur Folge, dass auch die Außen- und Entwicklungspolitik und solche auf den ersten Blick nicht involvierte Sektoren wie der internationale Handel oder Tourismus einbezogen werden müssen. Regionale und globale Herausforderungen haben oft auch Implikationen für nationale Gesundheitssysteme, wie etwa der demographische Wandel in Europa oder etwa die fachübergreifenden Mandate der Lissaboner Verträge, welche die europäische ökonomische Kompetitivität und Innovationskraft stärken sollen.

Parallel dazu gibt es eine Ernst zu nehmende globale Komplikation, etwa die derzeitige weltweite finanz- wie wirtschaftspolitische Problemlage. Um all diese Herausforderungen gesundheitspolitisch bewältigen zu können, brauchen wir neue Perspektiven für eine zeitgemäße Gesundheitspolitik. Ein solch holistischer Ansatz, basierend auf einer modernen Auffassung von Public Health, braucht aber starke und nachhaltige politische Unterstützung. Und diese steht im Kontrast zum bisher vorrangig behandelten Akutversorgungs-, Rehabilitations- und Pflegebereich.

Alljährliche Reparaturversuche, die nur an den Symptomen des „Gesundheitssystems“ ansetzen, sind der breiten Masse der Bevölkerung nicht mehr zu vermitteln. Die Menschen sind immer besser über gesundheitspolitische Belange informiert und in diesem Bereich mündige Konsumenten geworden, die wissen wollen, was verschiedene Gesundheitspolitiken für jeden individuell bedeuten. Zugleich steigt das Risiko der „ungefilterten“ Information aus Presse, Fernsehen und Internet, welche die Konsumenten häufig überfordert. Unsere Gesellschaft braucht deshalb kompetente und unabhängige Institutionen im Gesundheitsbereich, die wissenschaftliche Evidenz aufarbeiten und relevante Informationen disseminieren und an Konsumenten und gesundheitspolitische Entscheidungsträger vermitteln. Und das sollte nicht nur klinische Information sein, sondern dem Laien auch Verständnis für die verschiedenen Aspekte von Prävention und Public Health ermöglichen.

Konsumenten müssen auch ihre Belange und Meinungen zum Gesundheitssystem einbringen und artikulieren können, was sie denken, was sie können, was sie brauchen. Obwohl alle Elemente des Gesundheitssystems generell zur Diskussion stehen sollen, heißt das aber nicht, dass man an historischen Errungenschaften wie zum Beispiel am Risikopool und an der sozialen Solidarität rütteln muss: Die grundsätzlich bestehende „Eigenverantwortung“ der Konsumenten für ihre Gesundheit sollte nicht dahingehend interpretiert werden, dass Einzelne aus der Solidargemeinschaft ausgeschlossen werden. Vielmehr sollte die Qualität einer ökonomisch erbrachten Gesundheitsversorgung daran gemessen werden, wie Eigenverantwortung des Einzelnen mit gesellschaftlicher Mitverantwortung und Solidarität verbunden wird.

Qualität sichtbar machen

Der Bedeutungszuwachs von Public Health in der Gesundheitspolitik hat dazu geführt, dass auch in diesem Feld wissenschaftliche und praktische Methoden zur Qualitätssicherung entwickelt wurden. Folgerichtig muss aber dafür gesorgt werden, dass auch für den überwiegend nicht-medizinischen Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung entsprechende Ressourcen für Qualitätssicherung bereitgestellt werden. Wir brauchen verbesserte, einheitliche und verbindliche Kriterien zur Qualitätssicherung von präventiven und gesundheitsfördernden Maßnahmen und Programme, die uns dann auch internationale Vergleiche und Analysen unserer Performance auf diesem Gebiet liefern können. Gleichzeitig muss die immer noch lückenhafte Gesundheitsberichterstattung auf internationales Niveau gehoben werden und möglicherweise um Gesundheitspotential-Faktoren erweitert werden. Im internationalen Vergleich gibt es in Österreich noch sehr wenige Daten, um gesundheitspolitische Maßnahmen, die auf Evidenz basieren, planen, einleiten und evaluieren zu können.

Transparenz in der Gesundheitsförderung

In den jeweiligen technischen Ressorts sollte es eine Bestandsaufnahme geben, um zu sehen, ob Public Health schon jetzt Bestandteil oder explizites Ziel laufender oder geplanter Programme ist. Der Staat und öffentliche Institutionen sind oft Ressort-übergreifend in der Gesundheitsförderung und Prävention aktiv, ohne dass es wahrgenommen wird (zum Beispiel: Agrar- und Ernährungspolitik, Alkohol- und Tabaksteuern, Bildung, Umwelt, Raumplanung, Wasser- und Energiewirtschaft).

Wirtschaftliche und auf Lebensqualität bezogene Synergien in der Gesundheitspolitik können dann erzielt werden, wenn die Politik gesamtgesellschaftlich und mit Blick auf das Gemeinwohl gesundheitsfördernd und präventiv denkt und handelt. Wenn deutlich wird, wie viel „Gesundheit“ jetzt schon in anderen Politikfeldern enthalten ist, könnte der Leitgedanke der WHO von einer durchgängig „gesunden Politik“ als Alternative zur „Gesundheitspolitik“ tatsächlich Gestalt annehmen. Dies bedarf allerdings konkreter, Ressort-übergreifender Ziele oder Leitlinien für Public Health.

Public Health als Handlungsprinzip

Public Health, wie es als modernes Konzept international verstanden wird, kann nur als umfassende und gesamtgesellschaftlich verantwortete Querschnittsaufgabe interpretiert werden. Alle Ressorts – nicht nur der Gesundheitssektor per se – tragen Verantwortung dafür, dass die Förderung von Gesundheit gerade in der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise ein volkswirtschaftlich produktives Potential ist. Gesundheit darf daher nicht länger lediglich als zusätzlicher „Kostenfaktor“ betrachtet werden. Die „Förderung von Gesundheit“ in allen Politikbereichen („Health in All Policies“) kann allerdings nur als Sektoren-übergreifende Leistungsaufgabe und nicht als singuläre Ressortzuständigkeit gewährleistet werden. Um Ressort-übergreifende Gesundheitsziele erreichen zu können, sollten gesetzliche Regelungen nicht länger eindimensional auf ein Ressort fixiert bleiben, sondern im Idealfall auf die Querschnittaufgabe „Public Health“ ausgerichtet werden.

Um diese Themen auch umsetzen zu können, bedarf es einer Mindestvoraussetzung an nationaler Kapazität im Bereich der Wissenschaft und Forschung für Public Health. Einen ersten Schritt sollte die Erstellung eines umfassenden österreichischen Public Health-Konzepts darstellen, verbunden mit einer Strategie für deren Implementierung auf allen politischen und technischen Ebenen.

Österreich hat im Gesundheitsbereich viel erreicht. Dennoch stellen internationale Experten eine gewisse Unausgeglichenheit fest – vor allem eine Diskrepanz zwischen dem Aufwand an Ressourcen und unseren im internationalen Vergleich bescheidenen Resultaten. Wir haben Zugang zu relativ guter klinischer Versorgung und das schlägt sich auch in der allgemeinen Zufriedenheit der Bevölkerung mit dem kurativ medizinischen System nieder. Im Verhältnis zu den Ressourcen Österreichs, als einem der reichsten Länder in der OECD und der EU, und den hohen Ausgaben im Gesundheitsbereich, erreichen wir eigentlich nur sehr durchschnittliche und eigentlich unbefriedigende Resultate. Einer der Gründe dafür ist sicherlich, dass eine integrierte, Sektoren-übergreifende Vision für Public Health hierzulande von der Gesundheitspolitik möglicherweise noch nicht voll erkannt und daher noch nicht aufgegriffen worden ist. Um unsere Gesundheitsresultate weiter zu maximieren und den internationalen Anschluss nicht zu verpassen, müssen wir Public Health und damit Gesundheitsförderung und Prävention denjenigen Stellenwert in Österreich einräumen, den sie in anderen Staaten – inklusive in unseren EU-Nachbarländern – längst hat.

Literatur beim Verfasser

*) Dr. Armin H. Fidler
Lead Adviser, Health Policy and Strategy
Human Development Network
The World Bank
www.worldbank.org

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 8 / 25.04.2011