Enquete Medizin mit Qualität und Seele – Teil 2: Werte in einer modernen Gesellschaft

10.09.2011 | Politik

Im Folgenden bringen wir Teil 2 des Festvortrags von Univ. Prof. Clemens Sedmak, den er anlässlich der Enquete „Medizin mit Qualität und Seele“ – 15 Jahre Vinzenz-Gruppe in Wien gehalten hat.

Dann bin ich beim dritten Punkt: die Seele einer Institution. Da steht ja hier, wenn ich das so keck sagen darf, relativ vollmundig „Medizin mit Qualität und Seele“. Was darf ich mir darunter vorstellen? Ich weiß nicht, was ich mir darunter vorstellen darf – ich sage Ihnen, was ich mir darunter vorstelle. Wenn ich den Begriff „Seele“ höre, denke ich wie viele andere auch an Augustinus. Sie haben jetzt geglaubt, wir denken an Thomas von Aquin – aber falsch, wir denken an Augustinus. Warum denken wir an Augustinus? Weil Augustinus im Jahr 397/398 eine Revolution eingeleitet hat, indem er seine „Confessiones“, seine „Bekenntnisse“, fertig geschrieben hat und im zehnten Buch der Confessiones finden Sie eine Konzeption menschlicher Innerlichkeit. Wenn Sie aufmerksam das Buch der Bekenntnisse lesen, sehen Sie, dass Augustinus sich über die Seele folgende Gedanken macht: Erstens, die Seele ist das, was den Menschen zum besonderen Menschen macht. Zweitens, in der Seele gibt es drei Vermögen: das Gedächtnis, den Willen und den Verstand – memoria, voluntas und intellectus. Drittens: Eine wohlgeordnete Seele hat diese drei Vermögen in einem guten Abstimmungsverhältnis – dass nicht das Gedächtnis in eine Richtung geht und der Wille in eine andere. Beispiel: Wenn Menschen eine Verfallstheorie der Geschichte vertreten so wie ich – früher war alles besser und jetzt geht’s immer bergab -, dann hält das Gedächtnis den Willen, der an sich die Quelle der Hoffnung sein sollte, fest, weil früher alles besser war. Also, eine wohlgeordnete Seele hat drei Vermögen, die miteinander ein gutes Gleichgewicht bilden. Augustinus ist auch der Meinung, dass die Seele dazu dient, Haltungen auszubilden. Und damit ist die Seele verantwortlich für vier Grundfragen.

Die Seele ist verantwortlich für vier Grundfragen. Das Gedächtnis gibt mit die Grundfrage „Woher komme ich?“, „Was sind meine Wurzeln?“. Der Wille gibt mir die Grundfrage „Wohin will ich gehen?“, „Welche Ziele habe ich?“. Der Verstand gibt mir die Grundfrage „Warum machst Du das?“, „Welche Begründungen kannst Du für Dein Handeln angeben?“. Die Frage der Inclinatio, der Haltung, gibt mir die Frage nach dem „Wie?“, nach dem Stil und dem Modus, „Wie machst Du etwas?“. Und damit ist die Seele die Quelle von vier Fragen. „Woher?“, „Wohin?“, „Warum?“ und „Wie?“. Und die eingangs erwähnten Schlüsselfragen „Wieviel“ und „Wer zahlt?“ kommen nicht vor, wie Sie gesehen haben. Wir haben es mit vier Grundfragen zu tun, wenn wir uns auf die Suche nach dem Inneren begeben: „Woher?“, „Wohin?“, „Warum?“ und „Wie?“.

Ein kranker Mensch, ein Patient, ist verwundbar. Der berühmte italienische Journalist Tiziano Terzani hat in seinem Buch „Noch eine Runde auf dem Karussell“, seiner Schilderung der Zeit nach seiner Krebsdiagnose gesagt: „Ein Gesunder kann einen Kranken nicht verstehen.“ Im Zusammenhang mit leidenden Menschen kann man übrigens immer wieder die Beobachtung machen, dass das „Wie“ für einen verwundbaren Menschen mitunter wichtiger ist als das „Was“. Und wenn das so ist, ist eine „beseelte Institution“ ein Krankenhaus, das sich auch der Frage nach dem „Wie“ stellt und nicht nur den Fragen „Wieviel kostet das?“ und „Wer zahlt das?“ von großer Kostbarkeit. Ein Beispiel dazu, dass das „Wie“ wichtiger werden kann als das „Was“: Walter Jens, berühmter deutscher Intellektueller, seit jetzt mittlerweile sieben Jahren mit Demenz diagnostiziert, hat immer noch gerne Gäste zum Abendessen, wie seine Frau Inge erzählt. Er weiß nicht mehr, was gesagt wird, aber er weiß sehr wohl noch, wie es gesagt wird. Er weiß nicht mehr, wer ihm gegenüber sitzt, aber er kriegt immer noch mit, ob man über seinen Kopf hinweg spricht oder ihn mit Blicken und Gesten und Intentionen einbezieht. Und das ist, wenn Sie so wollen, der Primat des „Wie“ vor dem „Was“. Wenn man nichts mehr medizinisch für mich tun kann, dann bin ich sehr dankbar für die Weise, wie man mit mir umgeht, weil das „Was“, wenn Sie an Palliative Care und Ähnliches denken, in den Hintergrund tritt.

Zurück zur Seele einer Institution. Mit Augustinus können wir sagen, dass die Seele einer Institution im Umgang mit den genannten vier Grundfragen besteht: Woher, wohin, warum und wie. Wir können uns vorstellen, dass diese Grundfragen in einem Ordensspital eine besondere Rolle spielen. Diese vier Fragen, das „Woher?“, das „Wohin?“, das „Warum?“ und das „Wie?“ geben einem Menschen und auch einer Institution robuste Identität. Robuste Identität ist Identität, die auch unter widrigen Umständen hält. Auch unter widrigen Umständen kann ich Kurs halten an dem, wer ich bin und sein will. Ich gebe
Ihnen zwei Beispiele: Dietrich Bonhoeffer und Ingrid Betancourt. Dietrich Bonhoeffer war im Jahr 1943 ins Gefängnis gekommen. Sie wissen wahrscheinlich, dass er sich am 13. Januar 1943 verlobt hat in einem sehr eigenartigen Brief, den die 18-jährige Maria von Wedemeyer an ihn geschickt hat. Der Brief hat ungefähr folgenden Inhalt: „Lieber Pastor Bonhoeffer, auch wenn ich eigentlich gar kein Recht habe, Ihnen auf eine Frage zu antworten, die Sie gar nicht an mich richteten. Ich kann Ihnen heute ein von ganzem und frohem Herzen kommendes Ja sagen.“ Das nennt man den Verlobungsbrief des Dietrich Bonhoeffer. Und dann haben sie sich „richtig“ verlobt und Sie müssen sich vorstellen, am 5. April, also kurz nach der Frischverliebtheit, kommt Dietrich Bonhoeffer ins Gefängnis – glaubt, dass das eine Sache von ein paar Wochen oder Tagen sein wird. Und es zieht sich, es wird Sommer 1943, es wird Sommer 1944, und im April 1945 ist er gehängt worden und hat nie wieder das Licht der Freiheit erblickt. In dieser Zeit schreibt Bonhoeffer Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft und da sehen Sie, wie seine Seele, das Innere, immer wichtiger wird, weil das Äußere ungestaltbar geworden ist. Aus seiner neun Quadratmeter-Zelle sehen Sie Briefe, in denen er sich sehr viel beschäftigt mit dem „Woher?“, mit dem „Wohin?“, mit dem „Warum?“ und dem „Wie?“. Auch das kann ich Ihnen wärmstens empfehlen, dieses berühmte Buch „Widerstand und Ergebung, Aufzeichnungen und Briefe aus der Haft“ von Dietrich Bonhoeffer.

Zweites Beispiel: Ingrid Betancourt, franko-kolumbianische Politikerin, die im Februar 2002 von den Rebellen gefangen genommen worden ist und dann sechseinhalb Jahre im kolumbianischen Dschungel in Geiselhaft gehalten wurde. Sie hat letztes Jahr ein Buch herausgebracht „Kein Schweigen, das nicht endet“, wo sie uns auf 730 Seiten lange erzählt, wie sie diese sechseinhalb Jahre durchgebracht hat, ohne ihre mentale Gesundheit völlig zu verlieren – und Sie sehen auch hier eine Wende nach innen. Identität wird robust, wenn sie eine klare Antwort auf diese Fragen hat: „Woher?“, „Wohin?“, „Warum?“ und „Wie?“. Wenn wir eine gute Antwort auf die Frage nach dem „Woher?“, „Wohin?“, „Warum?“ und „Wie?“ haben, haben wir Quellen für robuste Identität – als Einzelne, aber auch als Institution. Eine Institution, die eine gute Antwort auf diese vier Fragen hat, hat robuste Identität: „Woher kommen wir und was ist unsere Geschichte?“, „Wohin wollen wir gehen, was sind die Ziele und Prioritäten?“, „Warum machen wir, was wir machen?“ und „Wie wollen wir die Dinge tun, die wir tun?“. Wenn eine Institution eine gute Antwort auf diese vier Fragen hat, hat sie gute Identitätsressourcen, die die Institution auch in krisenhaften Zeiten mit robuster Identität ausstatten. Und ich bin fast sicher, dass sich ein Ordensspital hier in einer besonderen Position befindet.

Beseelte Institutionen

Letzter Punkt: Die Sorge der Seele. Nehmen wir einmal an, dass es seelenlose Institutionen und beseelte Institutionen gibt. Ich meine das jetzt nicht metaphysisch-ontologisch, sondern eher in diesem Identitäts-Sinn. Seelenlose Institutionen sind solche, in denen die Frage nach dem „Wieviel?“ die Identitätsfragen nach dem „Woher?“, „Wohin?“, „Warum?“ und „Wie?“ geschluckt hat. Eine beseelte Institution kümmert sich demgegenüber um diese Fragen. Was sind Hindernisse auf dem Weg zu dieser Seelsorge einer Institution? Ich nenne drei Hindernisse auf dem Weg zur Sorge um die Seele einer Institution. Drei Hindernisse, die es uns schwer machen, die Sorge um die Seele einer Institution wahrzunehmen: Bullshit, grüner Tisch und moralisches Alzheimer.

Harry Frankfurt, ein seriöser Philosoph, hat ein seriöses Buch geschrieben und es trägt auch in der deutschen Übersetzung den Titel „Bullshit“. Das ist ein Taschenbuch, praktisch und billig. In diesem Buch stellt sich Harry Frankfurt die Frage: „Warum wird immer mehr Bullshit verbreitet?“ Bullshit ist unüberlegtes Geschwätz, wo Du ungedeckte Schecks ausstellst, die Du nicht durch Begründungsleistung oder Wissensansprüche einlösen kannst. Also warum nimmt Bullshit überhand? Und seine Antwort ist: Weil immer mehr Menschen immer öfter gezwungen sind, über Dinge zu reden, von denen sie keine Ahnung haben, aber so tun müssen, als würden sie sich auskennen. Ich habe eingangs gesagt, ich habe keine Ahnung von dem, was Sie tun und trage auf meine Weise jetzt zu dieser Verbreitung des Bullshits bei. Ich darf sehr demütig hinzufügen, die Politik macht es uns nicht immer leichter, die Harry Frankfurt-Thesen sozusagen zu konterkarieren. Also das ist das Erste: Die beste Art, Werte zu töten, besteht darin, sehr viel über Werte zu reden. Das ist Bullshit. Die beste Art, Werte kaputt zu machen, besteht darin, viel über Werte zu reden und zu reden und Leitbilder zu entwickeln und Leitbild-Prozesse zu gestalten und Dokumente zu verfassen und Rundbriefe zu erlassen. Wir Philosophen tragen zu diesem „Werte durch Worte begraben“ auch einiges bei; die Medien und die Politik auch. Bullshit ist ein Hindernis auf dem Weg zu gelebten Werten in einer Institution.

Zweites Hindernis auf dem Weg zur Sorge um die Seele einer Institution: grüner Tisch. Werte entstehen nicht beim grünen Tisch. Es ist eine Illusion, zu glauben, dass Du irgendwo im Kämmerlein sitzt und dann postulierst Du etwas, so wie Hans Küng und Helmut Schmidt seinerzeit Menschenpflichten am grünen Tisch postuliert haben. So funktioniert das nicht. Mich hat einmal ein Industrieller gefragt: Sagen Sie, wie kriege ich Werte in meinen Betrieb? Da habe ich mir gedacht, da ist schon einiges schief gelaufen, damit er überhaupt diese Frage stellt. Also entweder Sie haben Menschen, die diese Werte leben, oder Sie haben keine Werte.

Werte und kulturelle Praktiken

Und das dritte Hindernis nenne ich Moralisches Alzheimer. Moralisches Alzheimer ist leider Gottes nicht einmal böse gemeint von den Menschen, aber es greift um sich. Beispiel: „Mobiltelefone in öffentlichen Verkehrsmitteln“. Ich bin neulich mit dem Zug von Linz nach Salzburg gefahren. Um circa 23 Uhr ist der Zug in Linz weggefahren, Sie können sich ausrechnen, wann wir in Salzburg angekommen sind, um drei Uhr Früh, und die ganze Zeit von Linz nach Salzburg im Großraumwagen hat irgendeiner laut telefoniert und es war nicht interessant. Das geht so dahin und geht so dahin und ich habe mir gedacht, der meint es nicht böse und weiß gar nicht, dass es eine unglaubliche Sauerei ist, dass man so was quasi nicht tut. Das ist moralisches Alzheimer. Und wir wissen eines aus der Soziologie: Werte werden durch kulturelle Praktiken vermittelt. Cultural practices – das ist die Familie, das ist der Kindergarten, das ist die Schule, das sind Freundeskreise – hier werden kulturelle Praktiken gepflegt. Und wenn Selbstverständlichkeiten in der moralischen Orientierung verloren gehen, dann wird es schwer sein, eine gute Antwort auf die genannten vier Fragen zu finden. Moralisches Alzheimer ist also das dritte große Hindernis auf dem Weg zur Seelsorge, zur Sorge um die Seele einer Institution.

Wie sollen wir es also machen? Wir vermeiden Bullshit, wir vermeiden grünen Tisch und wir vermeiden moralisches Alzheimer. Wie sollen wir das aber wirklich umsetzen? Ich will es so sagen: Eine Institution, die versucht, Werte zu leben, möge zwei Eigenschaften haben. Erstens, sie möge eine ernsthafte Institution sein. Zweitens: Sie möge eine wohlerwogene Institution sein. Eine ernsthafte Institution hat für mich zwei Eigenschaften. Zum einen: In einer ernsthaften Institution bemühen sich Menschen redlich, aufrichtig und ernsthaft um das Leben von Werten, die ihnen wichtig sind. Zum anderen: Eine ernsthafte Institution weicht unangenehmen Fragen nicht aus. Und was sind solche unangenehmen Fragen? Ich nenne zwei: Stichwort Pflicht und Stichwort Privileg. Und damit bin ich schon bei der zweiten Eigenschaft. Eine Institution, die ihre Seele pflegt, ist nicht nur ernsthaft, sondern auch wohlerwogen. Sie reflektiert auf die unangenehmen Fragen, weicht unangenehmen Auseinandersetzungen nicht aus.

Im Gesundheitsbereich werden wir zwei unangenehme Diskussionen führen müssen: Eine Diskussion über Pflichten und eine Diskussion über Privilegien. Es ist eine unangenehme Diskussion, den Begriff der Pflicht in den Mund zu nehmen. Es ist eine unangenehme Diskussion, von Patientenpflichten zu reden. Es ist eine unangenehme Diskussion, von den Pflichten von Sterbenden zu reden. Das ist unangenehm, das ist mir ganz klar. Wir können uns aber auf Dauer nicht vor allem über Ansprüche definieren. Wenn Du einen Lebenswandel führst, der Dich in einen gewissen Gesundheitszustand bringt, dann hat das durchaus etwas mit dem Verständnis von Pflicht zu tun, Eigenverantwortung und Ähnlichem. Das ist eine unangenehme Diskussion und eine ernsthafte Institution wird einer solchen Diskussion nicht ausweichen – dass es eben auch Pflichten von Patienten und Patientinnen gibt. Die zweite äußerst unangenehme Diskussion betrifft Privilegien. Alle sagen, die Grenzen der Finanzierbarkeit wären erreicht, ja, dann muss man ein bisschen rückbauen. Und rückbauen heißt – es geht nicht ohne Privilegienabbau. Ich war letzten Donnerstag bei der Schuldnerberatungs-Tagung in Salzburg und da hat einer gesagt: ‚Ich habe einen Dienstvertrag, Gott sei Dank aus der alten Zeit, meine jungen Kollegen und Kolleginnen kriegen einen schlechteren Dienstvertrag und die, die nachkommen, kriegen wahrscheinlich überhaupt keinen mehr.‘ Und das wird also langfristig nicht gut gehen, wir brauchen eine gewisse Ausgeglichenheit, und müssen deswegen angesichts einer gefährlich betrogenen Generation eine Diskussion über den Abbau von Privilegien führen. Eine solche Diskussion ist deswegen unangenehm, weil Menschen, die sich in den Besitz von Privilegien gesetzt haben, und ich nehme mich da gar nicht aus, einer dreifachen Gesetzmäßigkeit folgen: Erstens: die Konvertierung in Verdienstlichkeit. Menschen, die Privilegien haben, stellen das so dar, als würden sie das verdienen. Zweitens: das Gesetz der Konvertierung in Relevanz. Menschen, die Privilegien haben, tun so, als wären sie und das, was sie tun, wahnsinnig wichtig. Und das Dritte ist das Gesetz steigender Selbstverständlichkeitsniveaus. Wenn Du Privilegien hast, scheint Dir das zunehmend selbstverständlich zu sein. Hier wartet eine unangenehme Diskussion auf uns, die auch mit Pensionssystem und Beamtenstatus zu tun haben wird.

Wiederum: Um Diskussionen über Pflichten und Privilegien führen zu können, brauchen wir Werte. Denn Werte brauchen wir dann, wenn wir festlegen müssen, was uns etwas wert sein soll. In einer ernsthaften und wohlerwogenen Institution werden solche Diskussionen geführt. „Wohlerwogen“ ist eine Diskussion zudem dann, wenn Pflichten und Rechte sich in einem begründbaren Gleichgewicht befinden und wenn Privilegien so verteilt sind, dass die Institution keine zu große Ungleichheit zulässt. Es ist für eine Institution als ganze im Sinne der Stabilität und des Klimas gefährlich, wenn sich die unteren Mitglieder einer Institution zu weit von den oberen oder eigentlich die oberen zu weit von den unteren entfernen. Das ist, denken Sie an das Buch von Richard Wilkinson und Kate Pickett mit dem schönen Titel „The Spirit Level“, auch für eine Gesellschaft nicht gut, wenn die Ungleichheit zu groß wird. Eine Institution mit robuster Identität wird sich als ernsthafte und wohlerwogene etablieren können und solche Diskussionen um Pflichten und Privilegien führen können. Auch hier denke ich, dass ein Ordensspital in einer besonderen Situation ist.

Resümee

Damit komme ich zum Schluss. Ich fasse für Sie den Gedankengang zusammen und komme zu meiner Schlussbemerkung. Das Thema waren Werte und moderne Gesellschaft. Mein erster Punkt war: Nehmen Sie die zwei Romane, versuchen Sie sich zu überlegen, was „moderne Gesellschaft“ bedeutet. Hier kristallisieren sich zwei Schlüsselfragen heraus: „Wie viel kostet es?“, „Wer zahlt es?“ Und Identitätsarbeit wird schwieriger, da die Identitätsressourcen schwerer zugänglich werden. Wenn ich eine Krise habe, brauche ich robuste Identität und dazu brauche ich Werte. Was sind Werte? Sie sind stabile Grundlagen für Präferenzenordnungen, die auch sozial wirksam sind. Denken Sie an Daniel Dorlings Beispiel und Anthony Kwame Appiahs Buch: Werte stabilisieren eine Institution und auch eine Gesellschaft. Wie kommen Werte zustande? Durch den Begriff der Seele nach Augustinus: Die Seele hat vier Vermögen. Gedächtnis, Willen, Verstand und Haltung. Und das gibt mir vier Leitfragen für die Seele einer Institution oder auch für die Seele eines Menschen. „Woher?“, „Wohin?“, „Warum?“ und „Wie?“: Eine seelenlose Institution wird diese Fragen aufopfern zugunsten der Frage nach dem „Wieviel?“. Die Seele einer Institution besteht in der Suche nach Antwort auf diese vier Fragen. Bullshit, grüner Tisch und die moralische Alzheimerkrankheit gefährden die Sorge um die Seele einer Institution. Wenn du eine beseelte Institution haben willst, musst du diese Fragen sehr sorgsam stellen – „Woher?“, „Wohin?“, „Warum?“ und „Wie?“ – und Dich dann um die Ernsthaftigkeit und die Wohlerwogenheit bemühen. Eine ernsthafte Institution erlaubt Menschen redlich, aufrichtig und ernsthaft ihre Werte zu leben und weicht unangenehmen Diskussionen nicht aus, wie etwa den Fragen nach Pflichten und Privilegien. Eine wohlerwogene Institution bringt Rechte und Pflichten in ein Gleichgewicht und lässt keine zu große privilegienbedingte Ungleichheit zu.

Schlussbemerkung: Ich hielt es für vernünftig, den Gesundheitsbegriff als Ressource zweiter Ordnung aufzufassen und nicht als Gut in sich. Sie alle kennen Amartya Sens Einsicht in die Armutsforschung: Menschen, die von Armut betroffen sind, leiden nicht so sehr an einem Mangel an Gütern, sondern an einem Mangel an Fähigkeiten. Und wenn Menschen von Armut betroffen sind, brauchen sie nicht in erster Linie Güter, sondern sie brauchen Zugang zu Fähigkeiten. Wenn du einem Querschnittsgelähmten ein Standardfahrrad schenkst, kann die Person mit dem Fahrrad alles Mögliche machen – nur nicht fahren. Wichtiger als das Gut ist also die Frage: „Was kannst du mit dem Gut anfangen?“ Und ich hätte Anlass zur Vermutung, dass es sich beim Gesundheitsbegriff ähnlich verhält. Wichtiger ist die Frage nach der Ausstattung, über die ich verfüge: Wie kann ich mit dem, was ich habe oder nicht habe, umgehen? Und da sind wir wieder beim Thema „robuste Identität“ und „Werte“, so dass die Gesundheitsdiskussion auch hier anknüpfen kann.

*) Univ. Prof. DDDr. Clemens Sedmak,
Universität Salzburg/Zentrum für Ethik und Armutsforschung;
E-Mail: clemens.sedmak@sbg.ac.at

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 17 / 10.09.2011