Internationaler Trend?: Ärzte zwischen Ausbrennen und Aussteigen

15.08.2011 | Politik

Internationaler Trend?

Die Gesundheitsreform, die Funktion der Allgemeinmedizin in der Grundversorgung, das geänderte ärztliche Bild von der Balance zwischen Arbeit und Leben, sinkende Berufsattraktivität mit steigenden Burnout-Raten. Das waren Themen, die ärztliche Spitzenvertreter aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Südtirol und Luxemburg jüngst auf der Konsultativtagung deutschsprachiger Ärzteorganisationen erörterten.
Von Martin Stickler

Im Herbst 2010 griffen die Ärztinnen und Ärzte in Luxemburg zu einem ungewöhnlichen Mittel: Ob in Niederlassung oder Spital – sie traten wegen zunehmend schlechter Arbeitsbedingungen fünf Wochen in den Bummelstreik und reduzierten ihren Einsatz um gut die Hälfte. Ärztliche Leistungen hätten einen immer geringeren Anteil an den Gesundheitsausgaben, sie würden zum Teil degressiv honoriert und in den Spitälern monopolisiert, das ärztliche Einkommen wäre ungerecht verteilt, so berichtete der Generalsekretär der Luxemburger Ärztevereinigung, Claude Schummer, anlässlich der 57. Konsultativtagung Anfang Juli im Großherzogtum. In großer Solidarität traten die rund 1.200 Ärzte des Kleinstaates für „selektive Umschichtungen“ von medizinischen Spezialfächern zur Allgemeinmedizin ein.

Ärztefrust ohne Grenzen

Ein zentrales Ergebnis der durch die Ärzteproteste hervorgerufenen Reformen ist symptomatisch und spricht ein Problem an, das ebenso in Deutschland oder in Österreich angesiedelt ist. Hat doch die systematische Überbewertung von Großeinrichtungen Missachtung, Ausbeutung und kontinuierlichen Attraktivitätsverlust der „primary-health“ durch die niedergelassene Allgemeinmedizin zur Folge. Mit einem „Vertrauensarztmodell“, das frappant an das durch die Österreichische Ärztekammer entwickelte Hausarztmodell erinnert, soll jetzt die Allgemeinmedizin eine Aufwertung erfahren. Wesentliche Schwerpunkte sind etwa die Sicherstellung der Grundversorgung, Prävention, die Begleitung und Führung der Patienten im Gesundheitssystem, die Koordinierung der Pflege bei chronischer Pathologie sowie die elektronische Erarbeitung und Administration der Patientendaten. Für die Betreuung der eingetragenen Patienten erhält der Vertrauensarzt einen Pauschalbetrag. Alles in allem habe diese Neuerung „zu mehr Anerkennung und finanziellen Verbesserungen der Allgemeinmedizin“ geführt, resümierte Schummer.

Deutliche Verbesserungen in der ärztlichen Arbeitssituation zur Beseitigung eines drohenden Ärztemangels forderte auch der neue Präsident der deutschen Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery. Heute würden in Deutschlands Spitälern 5.500 Ärzte fehlen, 2019 seien bei Fortsetzung der Entwicklung 37.000 Arztstellen nicht zu besetzen. Das Deutsche Ärzteblatt meldet darüber hinaus, dass rund 700 Arztordinationen keinen Nachfolger finden können und möglicherweise sperren müssen. Ursachen für diesen Entarztungstrend sieht Montgomery in der Haltung, dass die heutigen Ärzte nicht allein leben, um zu arbeiten, „sondern leben und arbeiten wollen“ (s. auch Interview Seite 12). Diese Neuinterpretation der work-life-balance gehe konform mit der Feminisierung des Berufes, wonach schon jetzt die Hälfte der Ärzteschaft weiblich sei. Umfragen zufolge wollen drei Viertel der deutschen Ärzte weniger arbeiten, 47 Prozent klagen über schlechte Bedingungen, 78 Prozent haben zuwenig Zeit für Patienten und fast alle beschweren sich über den hohen Dokumentationsaufwand.

Österreich thematisch stark präsent

Wie sehr gerade dieses auch in Österreich präsente Meinungsklima an der Psyche der Ärztinnen und Ärzte kratzt, zeigte ÖÄK-Präsident Walter Dorner anhand der weltweit ersten wissenschaftlichen Studie über das Burnout-Risiko der Mediziner (siehe ÖÄZ 8 vom 25.04.2011). 54 Prozent seien gefährdet und befänden sich in einer der drei Burnout-Phasen. Elf Prozent zeigten bereits das klinische Bild der Depression. Besonders betroffen seien Ärzte unter 47 Jahren. Vermutlich deshalb, da es in diesem Alter um die Existenzsicherung gehe. Überdurchschnittlich belastet seien auch die Ärzte in Ausbildung und alleinlebende Ärzte, denen offensichtlich der emotionale Rückhalt einer Partnerschaft und Familie fehle. Sowohl angestellte – diese etwas mehr – als auch niedergelassene Ärzte sind Burnout-gefährdet, erläuterte Dorner. In den Spitälern schlügen hier die überdurchschnittliche Dichte und Länge an Diensten, der Personalengpass und mangelnde Anerkennung als Gefährdungs-Faktoren durch, die überbordende Bürokratie in beiden Sektoren. In den Ordinationen seien es vor allem die unternehmerische Last, Journaldienste und die hohen Patientenfrequenzen. Ein nicht unerheblicher Stressfaktor könne auch in der weitgehenden Ökonomisierung des Gesundheitssystems und den damit einhergehenden Sparvorgaben festgemacht werden. Laut dem österreichischen Ärztepräsidenten sei die Politik gefordert, für Rahmenbedingungen zu sorgen, die es den Ärzten erlauben zu heilen, ohne selbst krank zu werden.

Der Bundesobmann der angestellten Ärzte, Harald Mayer, stellte die aktuelle Entwicklung des durch die Österreichische Ärztekammer initiierten österreichischen Fehlermelde- und Lernsystems (CIRS) dar. Der ÖÄK-Präsidialreferent für Qualitätssicherung, Otto Pjeta, präsentierte das von der ÖQMed (Österreichische Gesellschaft für Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement in der Medizin) entwickelte neue Qualitätsmanagement für Arztpraxen und der steirische Ärztepräsident Wolfgang Routil die wohnortnahe individuelle Basisversorgung durch den elektronischen Ärzteverbund styriamed.at.

Schweizer Risikoselektion

Neue Wege zur Eindämmung unerwünscht hoher Krankheitskosten wollte man in der Schweiz gehen. Bei seltenen Erkrankungen wurde eine Obergrenze für den Behandlungsaufwand von 100.000 Schweizer Franken diskutiert. Da diese Form der allgemeinen Risikoselektion offensichtlich mit sozialen Grundsätzen und dem Solidaritätsprinzip so überhaupt nicht in Einklang zu bringen ist, formierte sich öffentlicher Druck und brachte den Plan vorerst zu Fall. Freilich zeigt das Beispiel, dass die Sensibilität für die Fundamente eines sozialen Gesundheitssystems mit steigendem ökonomischem Sensorium abnimmt.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 15-16 / 15.08.2011