Kommentar – Univ. Prof. Johannes Bonelli: Was heißt Zweiklassenmedizin?

25.10.2011 | Politik

In den letzten Monaten hat sich anhand einer Studie des Vereins für Konsumenteninformation (VKI) eine Debatte über Zweiklassenmedizin in Österreich entzündet. Dabei zeigte sich, dass es sich hier um einen schillernden Begriff handelt, mit dem sich trefflich polemisieren lässt. Zunächst: Jeder Patient in Österreich erhält bei akuten, lebensbedrohlichen oder schmerzhaften Erkrankungen eine optimale medizinische Versorgung. Betrachtet man andererseits die Einführung von Selbstbehalten und sonstigen Einschränkungen bei Kassenleistungen (zum Beispiel von der Zahnbehandlung bis zu den diversen Heilbehelfen) zeigt sich, dass Patienten mit einem hohen Einkommen zweifellos Vorteile haben. Die Gesundheitspolitik ist hier gefordert, denn es ist nicht leicht, das medizinisch und menschlich Notwendige von einem überzogenen Anspruchsdenken zu trennen.

Die Frage ist freilich, inwieweit die Ärzteschaft selbst einer sogenannten Zweiklassenmedizin Vorschub leistet beziehungsweise inwiefern eine solche berechtigt ist und wo nicht. Relativ einfach ist der Sachverhalt dort, wo ein Patient einen elektiven Eingriff einfordert, der medizinisch nicht unbedingt indiziert ist, wie beispielsweise bei gewissen plastischen Operationen. Gegen eine „Zweiklassenmedizin“ auf dieser Ebene ist wohl nichts einzuwenden.

Problematischer ist die Situation dann, wenn es sich um sogenannte elektive Eingriffe handelt, die notwendig sind, aber lange Wartezeiten haben. Ein neues Gesetz (KAGuGG-Novelle) soll hier Verbesserungen schaffen und die Krankenanstalten verpflichten, nach standardisierten medizinischen Kriterien Terminverteilungen vorzunehmen.

Wenn der VKI jedoch meint, dass auf diese Weise Wartezeiten verringert werden, weil bei Bedarf auf andere Krankenhäuser ausgewichen werden kann, dann unterschätzt er die Bedeutung eines der wichtigsten tragenden Pfeiler unseres Gesundheitssystems, nämlich die freie Arztwahl. Unterschiedliche Wartezeiten kommen nämlich vor allem auch dadurch zustande, dass bestimmte Patienten von einem bestimmten Arzt in einem bestimmten Krankenhaus behandelt beziehungsweise operiert werden wollen. Wenn das nicht mehr möglich ist, dann führt dies in letzter Konsequenz zu einem anonymen verstaatlichten Gesundheitssystem mit allen damit verbundenen Nachteilen für die Patienten. Man wird also nicht umhin können, dass unsere Patienten auch weiterhin zu ihrem Arzt in die Ordination kommen können (privat versichert oder nicht), dort ausführlich untersucht und beraten werden, um gegebenenfalls einen Aufnahmetermin im Krankenhaus zu vereinbaren. Es obliegt dann dem jeweiligen Krankenhaus-Management, die Termine möglichst gerecht zu vergeben. Selbstverständlich wäre es inakzeptabel, wenn ein dringlicher Fall wegen eines weniger dringlichen hintan gesetzt wird, nur weil letzterer privat versichert ist. Aber wenn keine Dringlichkeit besteht (zum Beispiel bei einer Kataraktoperation wie im Fall der VKI-Studie) und beide Fälle vergleichbar sind, dann ist wohl kaum etwas dagegen zu halten, wenn Privatversicherte als Erste zum Zug kommen. Es wird oft vergessen, dass diese Patienten erheblich zur Finanzierung der Spitäler, der Einrichtung wie der Ärztegehälter, beitragen. Letztere sind ohne Privathonorare im internationalen Vergleich geradezu beschämend.

Privatpatienten tragen so gesehen auch dadurch zum Wohl der Allgemeinheit bei, dass unsere renommierten und hochqualifizierten Ärzte den gemeinnützigen Spitälern erhalten bleiben und nicht ins Ausland oder in die Privatkliniken abwandern.

Mit dem Schlagwort „Zweiklassenmedizin“ sollte also sensibler umgegangen werden. Gewiss: Alles muss getan werden, damit eine hochstehende medizinische Versorgung jederzeit für alle unabhängig von ihrem Einkommen gewährleistet wird. Verbesserungen sind uneingeschränkt zu begrüßen. Jeder Missbrauch zum Schaden bestimmter Patientengruppen beispielsweise durch Ausnützung von Notsituationen muss aufs Schärfste bekämpft werden. Aber man sollte das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und womöglich aus ideologischen Gründen unser hochwertiges Gesundheitswesen in Misskredit bringen.


*) Univ. Prof. Dr. Johannes Bonelli ist Direktor von IMABE – Institut für medizinische Anthropologie und Bioethik, Wien.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2011