Kommentar – Univ. Prof. Johannes Bonelli: Sondenernährung ohne Übereifer

25.11.2011 | Politik

Die künstliche Ernährung mit der PEG-Sonde ist heutzutage ein Routineverfahren. Sie hat ihre zweifelsfreie Berechtigung bei vielen Indikationen des medizinischen Alltags wie bei Schluckstörungen, vorübergehender Bewusstlosigkeit oder beim sogenannten Wachkoma. Der Sinn und Zweck einer Sondenernährung ist die Prävention der Folgen eines Nahrungs- und Flüssigkeitsmangels wie Infektionsanfälligkeit, Dekubitalgeschwüre, Verwirrtheitszustände mit dem Ziel, das Leben zu erhalten und das Leiden der Patienten zu lindern.

Festzuhalten gilt, dass es sich bei der Indikation und Steuerung einer PEG-Sonde primär um ärztliche Maßnahmen handelt und erst in zweiter Linie um eine pflegerische Aufgabe. Sie sollte jedenfalls nicht ohne medizinische Begründung allein zum Zweck der Reduktion des Pflegeaufwandes gelegt werden. Freilich ist es nicht immer leicht, die Trennlinie zu ziehen zwischen einer unumgänglichen Notwendigkeit und einem überzogenen therapeutischen Eifer. Dies gilt ganz besonders für alte, zunehmend demente Patienten, wenn sie typischerweise beginnen, immer weniger zu essen und zu trinken und an Gewicht verlieren.

Allgemeiner Konsens herrscht darüber, dass man den Prozess des Leidens und des Sterbens nicht künstlich verlängern soll. Die Schwierigkeit dabei ist, dass die Grenzen zwischen Leben und Sterben fließend sind und es daher keine absoluten Unterscheidungskriterien zwischen dem „Noch-Leben“ und dem „Schon-Sterben“ geben kann. Letztlich sind hier die Erfahrung des Arztes und sein Verantwortungsbewusstsein gefordert. Der Sterbeprozess wird natürlicherweise dadurch eingeleitet, dass die Triebkraft des Patienten, sein Leben zu erhalten, allmählich nachlässt. Anzeichen dafür sind oft ein reduzierter Lebenswille und ein vermindertes Hunger- und Durstgefühl. Die Tendenz, weiter zu leben, schlägt allmählich in eine Tendenz um, das Leben zu beenden.

Es kommt immer wieder vor, dass kachektischen, hochbetagten Menschen, die aufhören, zu essen und zu trinken, künstlich Flüssigkeit und Nahrung zugeführt wird, auch wenn keine Aussicht auf Besserung besteht. Der Grund für ein derartiges Verhalten dürfte weniger auf logische Überlegungen als viel eher auf eine alte medizinische Tradition zurückzuführen sein: das Bemühen, jedem Patienten bis zuletzt die nötige Pflege angedeihen zu lassen. Die Verabreichung von Nahrung und Flüssigkeit war dabei immer fundamentaler Bestandteil der Obsorge. Allerdings hat sich diese Gepflogenheit aus der Betreuung von Patienten entwickelt, die selbst noch das Grundbedürfnis hatten, zu essen und zu trinken.

Die im Zuge der modernen Medizintechnik automatische Übertragung dieser Tradition auf Menschen im Endstadium ihres Lebens, bei denen das Grundbedürfnis zu essen und zu trinken bereits erloschen ist, übersieht den entscheidenden Unterschied, nämlich, dass bei Letzteren der letzte Rest an Lebenserhaltungstendenz verlorengegangen ist und solche Patienten daher endgültig dem Ende ihres Lebens entgegengehen. Es besteht im Übrigen allgemeiner Konsens darüber, dass Patienten im Endstadium, die die Nahrungsaufnahme verweigern, keinesfalls an Hunger und Durst leiden. Die damit verbundene Austrocknung wirkt eher betäubend und führt langsam zur Agonie.

Therapeutischer Übereifer

Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe von Untersuchungen, die zeigen, dass eine Sondenernährung bei alten, betagten Patienten keinerlei Einfluss auf einen günstigeren Krankheitsverlauf hat. Die Sondenernährung erreicht in diesen Fällen ihre Zielsetzung, nämlich Leiden zu lindern und Leben zu erhalten, in keiner Weise. Im Gegenteil: Der Prozess des natürlichen Sterbens mit langsamer Trübung der Wahrnehmung wird verhindert. Es muss daher als therapeutischer Übereifer bewertet werden, wenn solchen Menschen am Ende ihres Lebens noch künstlich Flüssigkeit und Nahrung aufgezwungen werden.

Zusammengefasst kann daher gesagt werden, dass die künstliche Sondenernährung normalerweise bei hoch betagten Patienten im Sterbeprozess keinen Platz hat. Wenn jemand trotzdem eine solche Maßnahme setzt, darf dies nicht aus Verlegenheit geschehen: Hier bedarf es einer handfesten, rationalen Begründung.

*) Univ. Prof. Dr. Johannes Bonelli ist Direktor von IMABE – Institut für medizinische Anthropologie und Bioethik, Wien.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 22 / 25.11.2011