Kinder- und Jugendpsychiatrie: Riesengroßer Bedarf

10.11.2011 | Politik


In Niederösterreich können ab 1. Jänner 2012 die Leistungen von Kinder- und Jugendpsychiatern auf Kassenkosten in Anspruch genommen werden: Fünf neue Planstellen wurden geschaffen.

Von Ruth Mayrhofer

Die Niederösterreichische Gebietskrankenkasse (NÖGKK) und die Ärztekammer für Niederösterreich haben einen wichtigen Schritt getan“, hieß es zufrieden bei der Pressekonferenz, bei der der Vertrag für das neue Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie für Niederösterreich als erstem Bundesland präsentiert wurde. Fünf neue Planstellen für Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie sollen in Niederösterreich ab 1.Jänner 2012 besetzt werden. Die Leistungen können allesamt mit der niederösterreichischen GKK abgerechnet werden.

Damit soll – ein entsprechendes Pilotprojekt war bereits 2007 eingeleitet worden und läuft Ende 2011 aus – ein niederschwelliger und wohnortnaher Zugang zu diesen Fachärzten möglich und eine Versorgungslücke geschlossen werden, die bisher vor allem für finanziell schlechter gestellte Familien eine massive finanzielle Belastung war, vor allem aber für die Betroffenen eine ebensolche massive Unterversorgung zur Folge hatte.

„Die Verhandlungen mit der niederösterreichischen GKK sind harmonisch verlaufen, denn der dringende Therapiebedarf war ja evident“, erklärte Harald Schlögl, Kurienobmann der niedergelassenen Ärzte der Ärztekammer Niederösterreich. Und er wünscht sich, „dass dieser wichtige Schritt, den Niederösterreich nun gesetzt hat, schon bald auch in anderen Bundesländern möglich sein wird“.

Besonderheiten

Jan Pazourek, Generaldirektor der niederösterreichischen GKK, verwies auf die Besonderheiten des Projekts: Zum einen sei in Niederösterreich die Flächendeckung gemäß den entsprechenden WHO-Empfehlungen gegeben. Ebenso machte er auf die besondere Rolle der Fachärzte in der Versorgung aufmerksam: Sie allein hätten den „Gesamtblick auf das Kind“ von der Diagnose bis hin zur Therapie-Kontrolle, wobei natürlich der interdisziplinären Zusammenarbeit in Diagnose und Therapie sowie der Einbeziehung des persönlichen Umfeldes des Kindes große Bedeutung zukomme. Auch die Niederschwelligkeit des Angebotes sei „von besonderer Qualität“, weil dadurch vorrangig finanzielle Hürden, die bisher einer entsprechenden Behandlung entgegen standen, wegfallen würden. Außerdem sei die Umsetzung dieses Projekts ein Zeichen dafür, dass durch innovative Lösungen mittelfristig ein Mehrangebot von Leistungen in Zeiten der schmalen Börsen möglich sei. „Wenn man konsequent die Finanzziele verfolgt und einhält, schafft man sich die Spielräume für Leistungsverbesserungen“, so Pazourek. Nachsatz: „Das wäre auch für andere Teile des Gesundheitswesens eine gute Strategie.“ Die niederösterreichische GKK rechnet übrigens damit, dass die jährlichen Zusatzkosten für die bessere Versorgung von Kindern und Jugendlichen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie rund eine Million Euro beträgt.

Wie gut dieses neue Angebot von den Patienten beziehungsweise von deren Eltern angenommen wird, erläuterte Sabine Fiala, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, die von Beginn an in das Pilotprojekt eingebunden war: „Kinder- und Jugendpsychiater kennen die Entwicklung von Kindern von null bis 18 Jahren. Es braucht die fachärztliche Expertise, um eine sorgfältige Diagnose stellen zu können. Des Weiteren benötigt man einen eigenen Therapieplan für jedes Kind, wobei gegebenenfalls andere Berufsgruppen im Sinne eines vernetzten Arbeitens einbezogen werden müssen.“ Ebenfalls eine wichtige Rolle spielen die Eltern bei jedweder Behandlung ihrer Kinder: Sie benötigen Aufklärung, Beratung und Unterstützung. Die Früherkennung von psychischen Krankheiten bei Kindern ist laut Fiala besonders wichtig: „Das ist das Maß aller Dinge. Wenn wir in der Kindheit die Probleme erkennen und richtig therapieren, können Krankheitsverläufe bis ins Erwachsenenalter vermieden werden.“ Von der Wichtigkeit des Projekts zeigte sich auch Gesundheitsminister Alois Stöger bei der Pressekonferenz überzeugt: „Das ist erfreulich, das ist vorbildlich und das ist ein Meilenstein in der Kindergesundheit.“

Günther Wawrowsky, Obmann der Bundeskurie Niedergelassene Ärzte, reagierte ebenso positiv in einer Aussendung. Allerdings sei zu befürchten, dass der Hauptverband der Österreichischen Sozialversicherungsträger diesen längst überfälligen Schritt, nämlich die Kinder- und Jugendpsychiatrie auf Kassenkosten, blockieren werde, so Wawrowsky. Der Hauptverband weigert sich nämlich weiterhin, der ersten bundesweiten Lösung in Sachen Honorarordnung zuzustimmen, auf die sich die ÖÄK schon im September 2011 mit der Versicherungsanstalt für Eisenbahn und Bergbau (VAEB) geeinigt hatte. „Der Hauptverband verhindert, dass Kinder weniger begüterter Eltern eine erwiesenermaßen heilsame Behandlung erhalten“, erklärte der Bundeskurien-Obmann. Auch aus volkswirtschaftlichen Gründen sei der Boykott schlicht „nicht nachvollziehbar“. Mit psychischen Belastungen allein gelassene Kinder und Jugendliche seien beispielsweise stärker Drogen-gefährdet oder aufgrund anderer Folgeschäden oft nur schwer in den Arbeitsmarkt einzugliedern. „In Österreich bräuchte jedes zehnte Kind psychiatrische Hilfe, doch die Gesundheitspolitik ignoriert den Leidensdruck der Betroffenen“, betonte Wawrowksy. Er hofft jedoch, dass auch diese Probleme noch vor dem Jahreswechsel einer gütlichen Lösung zugeführt werden können.

Insgesamt ist der Kurienobmann der Niedergelassenen Ärzte der Meinung, dass der Vorstoß Niederösterreichs auch auf andere Bundesländer überschwappen wird: „Der Bedarf ist riesengroß. Es geht nicht an, dass eine Nicht-Versorgung aufrecht erhalten wird.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2011