Interview – Dr. Erwin Rasinger: Gesundheitsreform: Machtspiele und Beschäftigungstherapie

10.10.2011 | Politik

Für VP-Gesundheitssprecher Erwin Rasinger ist die Gesundheitsreform falsch aufgesetzt. Skepsis äußert er im ÖÄZ-Gespräch auch gegenüber E-Medikation und ELGA.
Von Susanne Lang und Martin Stickler


ÖÄZ: Gehen wir gleich in medias res – E-Medikation ist in aller Munde.

Rasinger: Erstens hat der Hauptverband die Ausschreibungsbedingungen verletzt und missachtet den Bescheid des Bundesvergabeamtes. Es ist bemerkenswert, dass der Minister nicht einschreitet, obwohl schon eine Klage bei der EU-Kommission liegt. Das könnte eine Riesenblamage für Österreich werden.
Zweitens werden wir große Probleme hinsichtlich des Datenschutzes bekommen. In Zeiten von Wikileaks muss man neue Wege finden, sensible Daten zu schützen. Zuletzt gelangten Daten von rund 600.000 Versicherten der Tiroler Gebietskrankenkasse in die Hände von Hackern! Laut EU sind Gesundheitsdaten besonders sensibel und nur dann zu speichern, wenn ein sehr hoher Nutzen für die Allgemeinheit resultiert.
Drittens müssen Kosten und Nutzen abgewogen werden. Gegenwärtig ist der Informationsgewinn bei der E-Medikation gering, aber die Bürokratie ist gewaltig.

Wie stehen Sie zum Elektronischen Gesundheitsakt, kurz ELGA?

Kritisch. Der Minister wollte ELGA im Schnellverfahren durchboxen, doch der Gesetzesentwurf war extrem fehlerhaft. Alleine die Zugangsberechtigung für rund 100.000 Menschen hätte jede Vertraulichkeit, die für das Arzt-Patienten-Verhältnis so wichtig ist, ins Wanken gebracht. Die unsortierte Datenflut wird vor allem in den Spitalsambulanzen zu riesigen Problemen führen. Sollte der Arzt in einem Befund etwas übersehen, landet er vor dem Kadi.

Laut Gesundheitsministerium und Hauptverband soll das Projekt rasch umgesetzt werden.
De facto gibt es schon viele kleine ELGAs – die Spitalsverbünde sind lokal vernetzt, die niedergelassenen Ärzte ebenfalls. Der Bund will ein zusätzliches System parallel installieren, anstatt die bestehenden „Insellösungen“ zu vereinheitlichen. In Deutschland ist das System gescheitert. Und nicht umsonst heißt ein ähnliches Projekt in England mittlerweile nur noch „Nightmare“, also Albtraum. Das Beste an ELGA ist derzeit der Name.

Brauchen wir ELGA überhaupt?

Aus Sicht der ÖVP ist ELGA in der jetzigen Form überflüssig.

Welche Form sollte ELGA haben?

Eine einfache, abgespeckte Form, wobei ich die Datenschutzfrage in den Vordergrund stellen möchte. Es sollte nur der behandelnde Arzt Zugang zu den Daten haben. Beim Fall Klestil zum Beispiel haben 1.600 Ärzte auf die Krankheitsdaten zugegriffen. Das ist unerträglich. Auch Prominente, Politiker und Manager haben ein Recht auf den Schutz ihrer Daten. Für mich müssen drei Fragen beantwortet werden: Was sind die Kosten, was ist der Nutzen und wie steht es mit dem Datenschutz?

Sie sind leidenschaftlicher Arzt. Welchen Nutzen könnte ELGA für Arzt und Patienten haben?
Mehr Information.

Würde dazu nicht die E-Card ausreichen?

Ja, damit wäre auch der Datenschutz gewährleistet.

Thema Gesundheitsreform…

Derzeit sieht es so aus, als gehe es nur um die Verteilung der Macht zwischen Hauptverband, Krankenkassen, Ländern und Gesundheitsministerium. Das ist keine Reform, sondern Beschäftigungstherapie. Man muss ein Ziel vor Augen haben. Die OECD hat uns eine klare Linie vorgegeben – wir geben für den Spitalsbereich überdurchschnittlich viel Geld aus, im Ambulanzbereich sind wir unterdurchschnittlich. Der Hauptverband will nur sparen – dabei sollte es im Gesundheitswesen um die Leistung am Patienten gehen. Das sind keine Begehrlichkeiten, wie Hauptverbands-Chef Schelling fälschlich meint, sondern Patientenrechte, die im ASVG stehen.

So wie im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie – hier bestehen ja enorme Defizite.
Ganz genau. Wenn man Leistungen verweigert, steigen die Ausgaben später enorm. Die betroffenen Kinder versäumen ihre Chancen. Sie werden chronisch krank und das System wird viel stärker belastet als durch eine adäquate und rechtzeitige Therapie.

Was wäre also zu tun?
Derzeit müssen bis zu 80.000 Kinder jährlich auf ihre Therapie verzichten – sei es Physiotherapie, Ergotherapie, Kinderpsychiatrie oder Kinderrehabilitation. Die durchschnittliche Wartezeit liegt bei einem Jahr oder mehr. Das ist ein Skandal, und es wundert mich, dass seit Jahren weggeschaut wird. Es kann nicht sein, dass ältere Menschen alle Leistungen bekommen, bloß weil sie sich artikulieren können, während für die Kinder niemand da ist, der auf die Barrikaden steigt.

Stichwort Spitalsreform: Die jetzt vorliegende KAKuG-Novelle strebt reduzierte Organisationseinheiten und Synergien zwischen einzelnen Abteilungen an.
Um beim Spital etwa 20 Prozent einzusparen, wie das die Absicht ist, muss erst die extramurale Versorgung leistungsfähiger werden. Man könnte zum Beispiel 80 Prozent der Diabetes- und 80 Prozent der Krebsbehandlungen extramural durchführen. Dazu fehlen aber leider die Kassenleistungen beziehungsweise werden blockiert wie zum Beispiel die Kinderpsychiatrie.

Was ist in Sachen Spitalsreform weiter wichtig?
Man muss die Spitäler entlasten. Dazu brauchen wir ein funktionierendes Hausarztsystem. Derzeit haben wir noch – ich betone: noch – eine sehr gute Versorgung mit Hausärzten, aber ihrer Honorierung ist dramatisch schlechter als die der Fachärzte. Die Bürokratie explodiert, und wenn wir so weiter machen, wird das Berufsbild Hausarzt zugrunde gehen. Das wäre eine Katastrophe. Am Land kommt noch die offene Frage der Hausapotheken dazu. Der Gesundheitsminister macht trotz meiner Aufforderung, Hausapotheken rechtlich bei Pensionierung abzusichern, keine Anstalten, eine akzeptable Lösung zu finden.

Wie könnte der Beruf des Hausarztes attraktiver werden?

In anderen Ländern wird der Hausarzt gefördert, weil man begriffen hat, dass zum Beispiel das Pflegethema nur mit einer guten Versorgung für chronisch Kranke gelöst werden kann. In der Schweiz, in Deutschland, Frankreich, Norwegen und den Niederlanden setzt man auf den Hausarzt. Die ÖVP und ich haben die Stärkung des Hausarztes im Regierungsprogramm untergebracht, aber seit drei Jahren geschieht absolut nichts. Stattdessen beschäftigen wir uns unter dem Titel „Gesundheitsreform“ mit Machtfragen.

Wie steht es um die Prävention?
In Österreich wird viel zu wenig getan. Ich konnte den Gesundheitsminister leider nicht dazu bewegen, lächerliche zehn Cent aus der Tabaksteuer zweckgebunden zu fordern. Die gesamte Tabaksteuer von etwa 1,37 Milliarden Euro wandert ins Budget für Straßenbau, Lehrergehälter etc. – nichts davon wird für Prävention verwendet. Allein aus den Lottoumsätzen bekommt das Sportbudget aber zweckgebunden mindestens 80 Millionen, während der Fonds Gesundes Österreich seit 1999 7,2 Millionen und keinen Cent mehr erhält.

In Sachen Ausbildung gibt es auch noch einiges zu tun.
Richtig. In Österreich werden die Turnusärzte als Lückenbüßer betrachtet und als Schreibkräfte missbraucht. Sie müssen Arbeiten erledigen, die anderswo von diplomierten Pflegekräften übernommen werden. Das ist eigentlich sehr unvernünftig – denn diese jungen Leute sollen einmal das System tragen. Es würde ja auch niemandem einfallen, einem angehenden Bankmanager nur das Abstempeln von Erlagscheinen zu übertragen. Auch die Lehrpraxen sind ein trauriges Thema. Offenbar ist es zu viel verlangt, zehn Millionen Euro an öffentlichen Geldern in die Ausbildung unserer Nachwuchsmediziner zu investieren.

Zum Abschluss: Worum geht es Ihnen, auf den Punkt gebracht, als ÖVP-Gesundheitssprecher?

Ich will weniger Bürokratie im Gesundheitswesen sowie eine Förderung und Anerkennung der ärztlichen Leistung. In dem Zusammenhang macht mir die hohe Burnout-Rate große Sorgen – kranke oder depressive Ärzte werden ihre Patienten nur bedingt kurieren können. Es muss unser Bestreben sein, dass dieser schöne Beruf attraktiv bleibt. Wenn einmal die besonders engagierten Ärztinnen und Ärzte resignieren, ist das ein Armutszeugnis für das gesamte System. Wir müssen gegensteuern, indem wir die Arbeitsverhältnisse verbessern, Leistung anerkennen und auch die Haftungsfragen nicht überborden lassen. Und: Der Arzt darf am Krankenbett nicht allein gelassen werden.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 19 / 10.10.2011