Gruppenpraxen: Ein Fall für Zwei

10.09.2011 | Politik

Gruppenpraxen sind eine Option, wie sich speziell Ärztinnen mehr private Lebensqualität bei gleichzeitiger Berufstätigkeit sichern könnten. Der Konjunktiv ist bewusst gewählt: Noch immer sind es Vorurteile, bürokratische oder praktische Hürden, die diesem Weg durchaus entgegen stehen.
Von Ruth Mayrhofer

Gruppenpraxen haben bei der niedergelassenen Ärzteschaft, die in Einzelpraxen arbeitet, noch immer ein durchaus schlechtes Image“, stellt die Augenärztin Helga Azem, die seit 2009 mit ihrer 35-jährigen Tochter Jasmin ein großes Augenzentrum im zweiten Wiener Gemeindebezirk mit 16 Mitarbeitern – darunter auch Optiker und Orthoptisten – als Gruppenpraxis betreibt, trocken fest. Warum das so ist? „Im Denken der Kollegenschaft gehen die Begriffe ‚Arzt‘ und ‚Unternehmer‘ häufig nicht zusammen“, meint die Ärztin, im „Nebenberuf“ unter anderem Vorsitzende der Fachgruppe Augenheilkunde und Optometrie in der Österreichischen und Wiener Ärztekammer, Vorsitzende der Sektion Fachärzte der Wiener Ärztekammer, sowie seit Juni 2011 Präsidentin der Österreichischen Ophthalmologischen Gesellschaft. Weil: „Ärzte haben nie unternehmerisches Denken gelernt, und eine Arztpraxis als Unternehmen zu betrachten, gilt – aus welchen Gründen auch immer – als ein wenig unfein. Da sind gewisse Animositäten vorprogrammiert.“

Mutter + Tochter = Gruppenpraxis

Dennoch ist für Helga und Jasmin Azem die Gruppenpraxis eine gute Variante, um gemeinsam erfolgreich zu arbeiten. Helga Azem, die schon vor ihrer Sub auspiciis-Promotion beschlossen hatte, auf eine wissenschaftliche Laufbahn zu verzichten und stattdessen „ihr eigener Herr in einer eigenen Praxis“ sein zu wollen, startete ihr Leben als Selbstständige vor 30 Jahren. Die vorerst als Wahlarztpraxis geführte Ordination weitete sich über die Jahre hinaus zu einer großen Kassenpraxis aus; ihre eigenen drei Kinder litten dank familiärer Hilfe nicht unter der Berufstätigkeit der Mutter. Als Tochter Jasmin die gleiche Fachrichtung wie ihre Mutter einschlug und selbst eine Familie gründete, drängte sich der Gedanke nach einer Gruppenpraxis auf. Schon in der Vergangenheit hatte die Tochter nach Abschluss ihrer Facharztausbildung im Unternehmen der Mutter immer wieder neben ihrer Tätigkeit als Oberärztin an einem Wiener Krankenhaus als Vertretung gearbeitet – und daran Gefallen gefunden. Also schloss man sich 2010 zu einem Mutter-Tochter-Team zusammen, das – wie Helga Azem strahlend betont – ganz ausgezeichnet funktioniert.

Eine Ordination, ein Unternehmen

„Wir führen das Augenzentrum als OG wie ein zeitgemäßes und wettbewerbsorientiertes Unternehmen“, erklärt die „Senior-Chefin“, für die die Partnerschaft mit ihrer Tochter eine persönliche Entlastung bedeutet, ihrer Tochter jedoch ebenso die Möglichkeit eröffnet, mehr Zeit mit ihren mittlerweile zwei kleinen Kindern ohne Nacht-, Feiertags- oder Radldienste im Krankenhaus aufzubringen. „Mittlerweile kümmert sich meine Tochter auch um den größten Teil des Praxis-Managements“, erzählt Helga Azem. „Sie hat ein professionelles Human-Ressource-Management aufgebaut, organisiert und managt das ‚administrative Rundherum’. Außerdem hat sie weitere fachliche Expertise in die Praxis eingebracht, da sie zum Beispiel eine Spezialausbildung in oculoplastischer Chirurgie absolviert hat.“ Davon profitiert die „Firma Azem“ genauso wie die Patienten. „Auch menschlich verstehen wir uns hervorragend“, meint die Mutter stolz. „Wir können uns alles sagen, über alles offen sprechen.“ Das sei übrigens die Grundvoraussetzung für jede gute Partnerschaft in einer Gruppenpraxis.

Gruppenpraxis: Kein Modell für Alle

„Eine Gruppenpraxis ist für Frauen mit Familie eine gute Chance, um ein Plus an Lebensqualität mit qualifizierter Arbeit zu verbinden“, sagt Helga Azem. Allerdings: „Derzeit ist das noch kein Parademodell; man wird sich dazu weitere Schritte überlegen müssen.“ Helga Azem gibt zu bedenken, dass „es nicht ausschließlich Gruppenpraxen geben kann“, denn das wäre weder im Sinn der Ärzteschaft noch in dem der Patienten. „Man muss konzedieren, dass Patienten in vielen Fällen lieber zu einem einzigen Arzt gehen, oder dass es Fächer wie etwa Psychiatrie gibt, wo Gruppenpraxen wirklich keinen Sinn machen.“ Die Ärztin ist jedoch überzeugt, dass sich „eine gesunde Mischung“ von Einzel- und Gruppenpraxen österreichweit durchsetzen wird, sofern sich in den Bundesländern das leidige Problem der Honorarabzüge bei Gruppenpraxen nicht mehr stellt, denn „diese sind ganz einfach nicht akzeptabel“.

Szenenwechsel

Ursula Klaar (47) und Christine Scholten (48) haben sich 2008 zu einer internistisch-kardiologischen Gruppenpraxis in Wien-Favoriten zusammengeschlossen, nachdem Scholten – Mutter von drei Kindern – nach einer langen Spitals-Karriere schon nach einer langen Spitals-Karriere schon 2005 den Sprung in die freie Praxis gewagt und diese in dem großen Wiener Arbeiterbezirk sehr schnell auf- und ausgebaut hatte. „Als das Angebot von Christine Scholten bei dieser Gruppenpraxis einzusteigen kam, habe ich ein Jahr gebraucht, um mir das zu überlegen“, meint Klaar, Mutter von zwei Söhnen im Alter von zwölf und 14 Jahren, „denn der Abschied vom AKH in Wien, wo ich immerhin 17 Jahre lang in einem hoch spezialisierten Bereich der Kardiologie gearbeitet hatte, fiel mir wirklich nicht leicht“. Dennoch überwogen bei der Entscheidung die Pluspunkte für einen Umstieg: Die Tatsache, „die eigene Chefin“ zu sein, die Planbarkeit der Arbeitszeiten und damit ein familienfreundlicheres Umfeld, und vor allem die gute und vertrauensvolle Beziehung zur Praxis-Partnerin. „Der Umstand, dass der zehnte Bezirk als ‚mit Kardiologen unterversorgt’ seitens der Kassen anerkannt wurde, hat ebenfalls bei der Entscheidung geholfen“, gibt Klaar zu bedenken. „Wir haben quasi einen zweiten Kassenpraxenvertrag dazubekommen und so ‚aus zwei eins’ gemacht, allerdings mit der Auflage, dass auch zwei Ärzte dort ohne Schließzeiten arbeiten.“

Die ersten beiden Gruppenpraxis-Jahre, schmunzelt Klaar, seien für sie gewesen „wie erst erwachsen werden, wie der Auszug aus dem geschützten ‚Hotel Mama‘ (= Spital) in die freie Wildbahn“. Die beiden Ärztinnen haben jedoch ein für beide passendes Arbeitszeitmodell gefunden, bei dem auch ihre Patientinnen und Patienten mit Migrationshintergrund (immerhin 30 bis 40 Prozent, Anm.) durch zwei Mitarbeiter, die als Dolmetscher fungieren können, sehr persönlich betreut werden. Die Patientenzahlen steigen weiter an, was Klaar nicht nur Freude, sondern zunehmend Sorgen bereitet: „Längere Wartezeiten auf einen Termin sind für Herz-Patienten oft nicht zumutbar“, meint sie. Andererseits: „Die Gruppenpraxis funktioniert derzeit wie eine Ambulanz, doch beziehungsstabiler und weniger anonym, und die Krankenhäuser entlastend.“ Und: „Durch unsere gute persönliche Vernetzung und Kommunikation mit den Krankenhäusern um uns ist es möglich, dort rasch und gezielt zu notwendigen Terminen für unsere Patienten zu kommen und auch retour adäquate Information zur Weiterbetreuung zu erlangen. Das kommt den Patienten letztlich wirklich zu Gute und macht uns große Freude.“

Betriebswirtschaft in die Ausbildung

Ebenso wie Helga Azem plädiert Ursula Klaar für „unbedingt ein bissl Betriebswirtschaft als Lehrgang während des Medizinstudiums!“ Darüber hinaus fordert die Internistin, dass präventive und edukative Maßnahmen adäquat bezahlt werden müssten. Weiters sei in diesem Zusammenhang die Schaffung der Möglichkeit zur engen Kooperation und vor allem die Leistungsabgeltung von in der Patientenversorgung relevanten weiteren Gesundheitsberufen wie Physiotherapeuten, Diätologen oder Psychotherapeuten durch die Krankenkassen ein Muss – auch in einer internistisch-kardiologischen Praxis. Denn: „Die Menschen in unserem Einzugsgebiet können sich Privathonorare nicht leisten“, betont Klaar.

Gedanken macht sich Klaar auch über eine Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen extra- und intramuralem Bereich. Das Verständnis zwischen niedergelassenem und angestelltem Bereich könnte etwa durch verpflichtende, aber zu bezahlende Cross-Trainings wesentlich verbessert werden. Also: Spitalsärzte könnten etwa einen Tag pro Woche in einer Arztpraxis mitarbeiten oder umgekehrt. Die Spitäler selbst müssten zur Entlastung der dort tätigen Ärzte und im Sinn einer angestrebten Kosten-Effizienz eine Aufwertung des Pflegebereiches zulassen. Insgesamt sei eine Richtlinie über die Kommunikation zwischen extra- und intramuralem Bereich wie in der Schweiz („SGIM-Charta für Zusammenarbeit Spital – Praxis, 2002, Anm.) anzustreben, da dies die Kosten senkt und die individuelle Patientenbetreuung besser optimiert als anonyme Datenbanken.

Konsens herrscht bei den Ärztinnen in beiden Gruppenpraxen aber darüber, dass sie allesamt neuerlich den Schritt in eine Gruppenpraxis wagen würden, obwohl es besonders bei Müttern mit kleineren Kindern „ohne Unterstützung der Familie nach wie vor nicht gehen würde“.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 17 / 10.09.2011