Enquete Medi­zin mit Qua­li­tät und Seele: Werte in einer moder­nen Gesellschaft

15.08.2011 | Politik



„Wie­viel kos­tet das?“ und „Wer zahlt das?“ sind die Schlüs­sel­fi­gu­ren als Signa­tu­ren einer moder­nen Gesell­schaft, wie Univ. Prof. Cle­mens Sedmak von der Uni­ver­si­tät Salz­burg bei sei­nem Fest­vor­trag anläss­lich der Enquete „Medi­zin mit Qua­li­tät und Seele“ – 15 Jahre Vin­zenz-Gruppe in Wien betonte.

Meine These ist ganz ein­fach: In Zei­ten der Krise brau­chen wir robuste Iden­ti­tät und ohne Werte keine robuste Iden­ti­tät. Das ist „in a nuts­hell“ der ganze Vor­trag. Ich habe vier Punkte, fange an mit „Die moderne Gesell­schaft“, das ist ja auch das Thema, das mir gestellt wor­den ist. Ich sage zwei­tens etwas über den Begriff von Wer­ten, drit­tens etwas über die Seele von Insti­tu­tio­nen, weil es hier ja heißt „Medi­zin mit Qua­li­tät und Seele“ und vier­tens etwas über die Sorge der Seele.

Mein ers­ter Punkt ist die moderne Gesell­schaft. Wenn man sich in zwei zeit­ge­nös­si­schen Roma­nen, die für das Gesund­heits­we­sen rele­vant sind, umsieht, kann man inter­es­sante Anre­gun­gen für eine Dia­gnose der Zeit gewin­nen. Ich meine einer­seits den Roman von Juli Zeh, „Cor­pus delicti“, und ande­rer­seits den Roman von Ninni Holm­q­vist, „Die Ent­behr­li­chen“. Juli Zeh, eine auf­stre­bende, sehr begabte, sehr zyni­sche deut­sche Autorin, hat in ihrem Roman „Cor­pus delicti“ eine gesund­heits­fa­schis­to­ide Gesell­schaft beschrie­ben, wo der Staat die Gesund­heits­zu­stände der Staats­bür­ger und Staats­bür­ge­rin­nen, die mehr und mehr zu Unter­ta­nen wer­den, regel­mä­ßig über­wacht. Sie müs­sen ihre Blut­werte und Urin­werte und was immer sie für Werte aus­wei­sen kön­nen, jeden Monat abge­ben und eine zen­trale Behörde küm­mert sich dann um ihr Wohl­be­fin­den. Das geht in die Rich­tung „der glä­serne Pati­ent, die glä­serne Pati­en­tin“. Das ist das eine, „Cor­pus delicti“, eine Dys­to­pie, wo Juli Zeh auch der Ansicht ist, so weit ist das nicht von unse­rer Gesell­schaft entfernt.

Das zweite Bei­spiel aus der Welt der Romane stammt von Ninni Holm­q­vist, einer schwe­di­schen Autorin. Ihr Debüt­ro­man heißt „Die Ent­behr­li­chen“. Es wird eine Gesell­schaft beschrie­ben, die ihre Ange­hö­ri­gen klar ein­teilt in nütz­li­che Mit­glie­der und unnütze Mit­glie­der. Nütz­li­che Mit­glie­der sind sol­che, die sich durch zwei Kri­te­rien aus­zeich­nen: Einer­seits pro­du­zie­ren sie Kin­der, zwei­tens haben sie einen anstän­di­gen Arbeits­platz. Men­schen, die sich nicht ver­mehrt haben und/​oder kei­nen anstän­di­gen Arbeits­platz erwor­ben haben, sind unnütze Mit­glie­der der Gesell­schaft und mit unnüt­zen Mit­glie­dern der Gesell­schaft pas­siert Fol­gen­des: Män­ner mit 60 und Frauen mit 50 wer­den in eine Ein­rich­tung ein­ge­wie­sen. Diese Ein­rich­tung ist wun­der­schön, schaut so aus wie ein „All inclusive“-Touristenclub-Paradies.

Es gibt nur zwei kleine Nach­teile: Ers­tens, es gibt keine Fens­ter. Zwei­tens: Man kann nicht her­aus. Und: Die unnüt­zen Mit­glie­der der Gesell­schaft, die in diese Ein­rich­tung ein­ge­wie­sen wer­den, wer­den zu psy­cho­lo­gi­schen und medi­zi­ni­schen Expe­ri­men­ten her­an­ge­zo­gen. Damit sie sich wenigs­tens auf irgend­eine Weise gegen Ende des Lebens als nütz­lich erwei­sen. Bei psy­cho­lo­gi­schen Expe­ri­men­ten geht es in Rich­tung Stan­ley Mil­grams oder um das Tes­ten von Anti­de­pres­siva. Bei den medi­zi­ni­schen Expe­ri­men­ten geht es um Ver­su­che und dann auch um Organ­spen­den. Ninni Holm­q­vist, die diese Dys­to­pie ent­wor­fen hat, schil­dert das in dem Roman so: Die Men­schen, die jetzt in die­ser Welt leben, in der die nütz­li­chen Mit­glie­der klar von den unnüt­zen geson­dert wer­den, die haben sich das nicht vor­stel­len kön­nen, dass so etwas je pas­sie­ren wird. Irgend­ein Poli­ti­ker hat irgend­wann ein­mal etwas gesagt und 15 Jahre spä­ter ist das auf ein­mal wirk­lich gewor­den. Eine sol­che Ent­wick­lung kommt schlei­chend und auf ein­mal ist das Resul­tat da. Wir könn­ten der Ansicht sein, dass wir uns auf eine sol­che Gesell­schaft zu bewegen.

Schlüs­sel­fra­gen

Was heißt das jetzt für die moderne Gesell­schaft? Ich mache zwei Beob­ach­tun­gen. Ers­tens: Es kris­tal­li­sie­ren sich Schlüs­sel­fra­gen als Signa­tur einer moder­nen Gesell­schaft her­aus: Wie­viel kos­tet das?“ und „Wer zahlt das?“. Das ist die eine Beob­ach­tung, die Sie sehr schön an die­sen bei­den Dys­to­pien sehen kön­nen. Die zweite Beob­ach­tung: Es wird immer schwie­ri­ger, Iden­ti­tät auf­zu­bauen und zu ver­tei­di­gen. Iden­ti­tät ist irgend­wie das, was übrig bleibt, wenn alles Soziale abge­zo­gen ist. Iden­ti­tät ist gewis­ser­ma­ßen der Kern der Per­sön­lich­keit und einer Per­son. Und es zeigt sich in die­sen bei­den Dys­to­pien und auch über die Dys­to­pien hin­aus, dass die Iden­ti­täts-Arbeit immer auf­wen­di­ger wird und gleich­zei­tig die Iden­ti­täts-Res­sour­cen immer schwe­rer zugäng­lich wer­den. Iden­ti­täts­ar­beit ist die Arbeit, die wir ver­rich­ten müs­sen, um ein beson­de­rer Mensch zu sein, und Iden­ti­täts-Res­sour­cen sind die Res­sour­cen, die wir dazu brauchen.

Was sind Iden­ti­täts­res­sour­cen? In der Phi­lo­so­phie unter­schei­den wir vor allem drei: „Zuge­hö­rig­keit“, „Story“ und „starke Sorge“. „Zuge­hö­rig­keit“ – Du bekommst Iden­ti­tät dadurch, dass Du irgendwo dazu­ge­hörst. Das ist ein Gedanke von Avis­hai Mar­ga­lit. Die Vin­zenz-Gruppe ist ein schö­nes Bei­spiel: Du bekommst Iden­ti­tät, wenn Du irgendwo dazu­ge­hörst. Wenn sich die Zuge­hö­rig­kei­ten eher durch­läs­sig, fle­xi­bel, liquid anfüh­len, wird es schwer, irgendwo dabei zu sein, und wir sehen auch, die Men­schen füh­len sich nicht mehr so wohl, sich lebens­land an irgend­et­was oder irgend­je­man­den zu binden.

„Story“ – ein Gedanke von Charles Tay­lor. Wir bekom­men Iden­ti­tät dadurch, dass wir eine ganz beson­dere und glaub­wür­dige Geschichte erzäh­len kön­nen. Es ist nicht selbst­ver­ständ­lich, dass Men­schen fähig sind, ihr Leben als Geschichte erzäh­len und in einen grö­ße­ren Rah­men ein­bet­ten zu kön­nen. Die Har­vard Busi­ness Review hat ein­mal eine Stu­die gemacht über Manager/​innen und sie gebe­ten, ihr Leben als Geschichte zu erzäh­len. Die waren meis­tens unfä­hig dazu, haben zwar einen tabel­la­ri­schen Lebens­lauf rekon­stru­ie­ren kön­nen, aber nicht das Leben als Geschichte, die irgend­wie auch span­nend ist und einen kon­ti­nu­ier­li­chen Weg zeigt. In einer Welt, wo wir sehr viele Geschich­ten erzäh­len müs­sen, in ver­schie­de­nen Rol­len auf­tre­ten, wird das Fin­den der je eige­nen „Story“ schwie­riger.

Die dritte Iden­ti­täts-Res­source neben „Zuge­hö­rig­keit“ und „Geschichte“ ist die „starke Sorge“ oder „robust con­cern“ – das ist ein Gedanke von Harry Frank­furt. Iden­ti­tät bedeu­tet: etwas zu haben, was Dir wirk­lich, wirk­lich wich­tig ist. Wenn Men­schen in ihrem Leben nichts gefun­den haben, was ihnen wirk­lich, wirk­lich wich­tig ist, wird es ihnen schwer fal­len, ein beson­de­rer Mensch zu sein. Wenn so viele Dinge immer wie­der wich­tig wer­den und in den media­len Vor­der­grund drän­gen – es war doch neu­lich Fuku­shima und jetzt sind wir mit der Grie­chen­land­krise beschäf­tigt und dann kom­men viel­leicht Spa­nien und Ita­lien dran – es ändert sich also stän­dig, was Auf­merk­sam­keit ver­langt und wich­tig ist. So wer­den die Iden­ti­täts-Res­sour­cen immer schwie­ri­ger zugäng­lich. Zuge­hö­rig­keit, Story und starke Sorge wer­den kost­bare und schwer erreich­bare Güter. Gleich­zei­tig wird die Iden­tit­äs­ar­beit immer anspruchs­vol­ler, du musst immer mehr leis­ten, um ein beson­de­rer Mensch zu sein. Der Druck steigt.

„Non-dise­ase“

Dass der Druck steigt, ein sozial akzep­ta­bler Mensch zu sein, kann an einem Bei­spiel gezeigt wer­den, aus dem Gesund­heits­we­sen: am Begriff der „Non-dise­ase“ von Richard Smith. „Non-dise­ase“ ist ein medi­zi­nisch nicht pro­ble­ma­ti­sches Phä­no­men, das aber sozial, kul­tu­rell zur Krank­heit dekla­riert wird. Etwa der Haar­aus­fall bei Män­nern oder die Trä­nen­sä­cke, die her­ab­hän­gen – das wird auf ein­mal eine Krank­heit, obwohl es medi­zi­nisch über­haupt keine Krank­heit ist. Der Druck, so etwas nicht zu haben, steigt. Das sind also meine bei­den Beob­ach­tun­gen in Bezug auf die moderne Gesell­schaft. Es kris­tal­li­sie­ren sich zwei Schlüs­sel­fra­gen her­aus. „Wie viel kos­tet das?“ und „Wer zahlt das?“. Und zwei­tens: Es wird schwie­ri­ger, eine beson­dere Iden­ti­tät als Mensch zu haben, weil die Ansprü­che an Iden­ti­tät stei­gen, sodass bei den meis­ten Men­schen das her­aus­kommt, was man im Eng­li­schen eine „high main­ten­ance per­so­na­lity“ nennt. Wis­sen Sie, was eine „High-Main­ten­ance-Per­so­na­lity“ ist? So jeman­den lädt man nicht gerne ein oder nur ein­mal und dann kein zwei­tes Mal. Das sind Leute, die im Umgang anspruchs­voll sind, die immer Extra­würst­chen brau­chen, und es ent­wi­ckelt sich Iden­ti­täts­ar­beit in diese Rich­tung, dass alle sich als high main­ten­ance peo­ple posi­tio­nie­ren müs­sen, obwohl die Res­sour­cen immer schwä­cher besetzt werden.

Und jetzt kommt ein wich­ti­ger Punkt, der zum Thema der Werte hin­führt: In Zei­ten der Krise kön­nen wir uns die Frage „Wie viel kos­tet es?“ und „Wer zahlt es?“ nicht mehr als die Haupt­fra­gen leis­ten. Wenn Sie eine nukleare Ver­seu­chung haben, die irrever­si­bel ist, wo viel­leicht der Erd­bo­den schön lang­sam ver­seucht wird – geht es nicht mehr um die Fra­gen, wie­viel das kos­tet und wer das zahlt. Da ist etwas ver­lo­ren, was nicht mit Geld wie­der gewon­nen wer­den kann. Da haben wir den Bereich des­sen, wo wir mit viel Geld viel errei­chen kön­nen, ver­las­sen, und wir sind bei Wer­ten angelangt.

Warum wir Werte brauchen

Das ist also mein ers­ter Punkt: „die moderne Gesell­schaft“ – sie weist zwei Schlüs­sel­fra­gen auf. Weil die bei­den Schlüs­sel­fra­gen sich in ent­schei­den­den kri­sen­haf­ten Punk­ten als unzu­läng­lich erwei­sen und auf­grund der Pro­ble­ma­tik der erschwer­ten Iden­ti­täts­ar­beit, brau­chen wir Werte.

Zwei­ter Punkt: Was sind Werte? Werte sind nach phi­lo­so­phi­schem Ver­ständ­nis „con­cep­ti­ons of the desi­ra­ble“ oder, viel­leicht ein biss­chen volks­nä­her aus­ge­drückt, „sta­bile Grund­la­gen für Prä­fe­ren­zen­ord­nun­gen“. Also „con­cep­ti­ons of the desi­ra­ble“ soll hei­ßen: Werte sind Kon­zep­tio­nen des­sen, was anstre­bens­wert und wün­schens­wert ist – das ist ein Wert. Er gibt mir eine Rich­tung vor, in die ich gehen will und soll. Ein Wert ist also Hand­lungs-lei­tend. Es ist eine Kon­zep­tion, die etwas Wün­schens­wer­tes, das um sei­ner selbst wil­len anzu­stre­ben ist, zum Aus­druck bringt.

In der ande­ren For­mu­lie­rung: Werte sind „sta­bile Grund­la­gen von Prä­fe­ren­zen­ord­nun­gen“. Sta­bil heißt, das ändert sich nicht von Minute zu Minute. Selbst, wenn Sie ein Situa­ti­ons­ethi­ker oder Situa­ti­ons­ethi­ke­rin sind, wür­den Sie auch eine gewis­sen, über die Situa­tio­nen hin­aus grei­fende Kri­te­rio­lo­gie brau­chen, um ent­schei­den zu kön­nen, wel­ches X Sie wel­chem Y vor­zie­hen. Das ist eine Prä­fe­ren­zen­ord­nung. Werte hel­fen uns, Prä­fe­ren­zen zu for­mu­lie­ren und zu sagen, X ist wich­ti­ger als Y – genau darin besteht in der Wer­te­dis­kus­sion die größte Her­aus­for­de­rung. Es sagen ja alle: „Auto­no­mie ist schön“; es sagen ja alle: „Für­sorge ist schön“. Aber in einem Kon­flikt­fall brauchst du eine Prä­fe­ren­zen­ord­nung: Was ist also wich­ti­ger als was in einer bestimm­ten Situa­tion. Werte sind also sta­bile Grund­la­gen von Prä­fe­ren­zen­ord­nun­gen; sie hel­fen uns, Prio­ri­tä­ten zu set­zen, vor allem im Kon­flikt­fall.

Nun haben Werte drei Dimen­sio­nen. Sie haben eine kogni­tive, eine emo­tive und eine kona­tive Dimen­sion. Werte haben eine kogni­tive Dimen­sion, sie haben mit Über­zeu­gun­gen zu tun. Also man sollte ein biss­chen etwas über die Rea­li­tät wis­sen, um Werte ver­tre­ten zu kön­nen. Das ist in der katho­li­schen Tra­di­tion eine schöne Ein­sicht, ehre die Wirk­lich­keit und wenn du Werte leben willst, lebe sie nicht an der Wirk­lich­keit vor­bei, das geht für beide Part­ner schief. Tho­mas von Aquin hat ent­spre­chend gesagt, dass der sich an prak­ti­schen Wer­ten ori­en­tie­rende kluge Mensch sich an „der Sache selbst“ (ipsa res) ori­en­tiert. Zwei­tens wei­sen Werte einen emo­ti­ven Aspekt auf: Werte haben auch mit Emo­tion zu tun. Kühle Werte – so funk­tio­niert das nach phi­lo­so­phi­schem Ver­ständ­nis nicht. Es gibt ein küh­les Leben von Wer­ten, aber es gibt nicht kühle Werte; sie erfül­len Dich mit einem Sinn für die Dring­lich­keit und Inten­si­tät – selbst in der ver­meint­li­chen Welt der sozia­len Kälte. Und drit­tens haben Werte etwas Kona­ti­ves; das ist die Stre­be­kraft, denn Wert drängt dich in eine bestimmte Rich­tung.

Jetzt kön­nen Sie sagen: Wir haben doch alle unsere sub­jek­ti­ven Prä­fe­ren­zen­ord­nun­gen. Der eine shoppt im bud­dhis­tisch-katho­li­schen Raum, der andere im tao­is­tisch-mus­li­mi­schen Raum – so funk­tio­nie­ren die Leute heute und jeder und jede zim­mert sich das auf seine und ihre Weise zurecht. So könnte man den­ken und so den­ken auch viele. Das ist schon rich­tig, aber Insti­tu­tio­nen in kri­sen­haf­ten Zei­ten brau­chen Wer­te­grund­la­gen und diese Wer­te­grund­la­gen prä­gen auch die Ent­wick­lung von Insti­tu­tio­nen oder auch Gesell­schaf­ten. Mein
Punkt ist: Werte sind nicht nur indi­vi­du­ell für irgend­wel­che sub­jek­ti­ven Prä­fe­ren­zen rele­vant, son­dern auch für Insti­tu­tio­nen, für Gesell­schaf­ten und sogar für eine ganze Staa­ten­ge­mein­schaft, wie sie die EU sein soll.

Soziale Bedeu­tung von Werten

Ich gebe Ihnen zwei Bei­spiele, die dies deut­lich machen sol­len, dass Werte eine soziale und kul­tu­relle Bedeu­tung haben und über bloß sub­jek­tive Prä­fe­ren­zen hin­aus­ge­hen. Ers­tes Bei­spiel Daniel Dor­ling, ein eng­li­scher Human­geo­graf, phi­lo­so­phisch sehr inter­es­siert, an der Uni­ver­si­tät Shef­field. Er hat vor ein paar Mona­ten ein Buch her­aus­ge­bracht mit dem schö­nen Titel „Inju­s­tice: Why Social Ine­qua­lity Per­sists“. Er stellt sich in Bezug auf die eng­li­sche Gesell­schaft die Frage, warum die Ungleich­heit der Gesell­schaft sta­bil gehal­ten ist, warum sie erhal­ten und ver­fes­tigt wird? Dor­lings These lau­tet, dass es fünf per­sis­tente Glau­bens­über­zeu­gun­gen gibt, „beliefs“, die als Werte ver­mit­telt wer­den und uns alle gefan­gen hal­ten in einem Welt­bild, das uns zwingt, die Gesell­schaft in gewis­ser Weise im Sinne wach­sen­der Ungleich­heit auf­zu­bauen. Also warum hält sich Ungleich­heit so per­sis­tent? Weil wir in „beliefs“ gefan­gen sind, die wir als Werte leben, wei­ter­ge­ben und von da aus die Gesell­schaft struk­tu­rie­ren. Was sind diese fünf „beliefs“, die er fest­hält? Ers­tens, „eli­tism is effi­ci­ent“ – Eli­tis­mus ist effi­zi­ent und eine gute Sache. Zwei­tens, „greed is good“ – Gier ist gut, Gier nach Wachs­tum ist gut, ist ver­fol­gen­s­wert. Drit­tens, „exclu­sion is neces­sary“ – Aus­gren­zung ist not­wen­dig, tut uns leid, dass wir nicht alle mit­neh­men kön­nen, aber es ist eben so. Wie Niklas Luh­mann ein­mal gesagt hat, man kann Theo­rien­spra­che nicht nach dem Kon­voi-Prin­zip fah­ren und auf das Ankom­men des Letz­ten war­ten. So funk­tio­nie­ren auch die guten Vor­le­sun­gen nicht, also man war­tet ein biss­chen, aber man war­tet nicht ganz bis zum Schluss. Und eine Gesell­schaft funk­tio­niert auch so. Vier­tens, „pre­ju­dice is natu­ral“ – Vor­ur­teile sind natür­lich und Dor­ling meint in die­sem Zusam­men­hang vor allem sozi­al­dar­wi­nis­ti­sche Gedan­ken­mus­ter: Man­che sind nicht lebens­tüch­tig; nun denn, da muss man ein biss­chen schauen, dass die nicht zu viel mit­mi­schen in der Gesell­schaft. Das fünfte gene­relle Prin­zip, das er sieht, ist „des­pair is ine­vi­ta­ble“ – Ver­zweif­lung ist unver­meid­lich. Also man­che Leute ver­zwei­feln – Depres­sio­nen, Burn­out und psy­chi­sche Erkran­kun­gen sind sozu­sa­gen nur die Spitze des Eis­bergs. Und das ist die These von Daniel Dor­ling – auf die­sen fünf „beliefs“ – „eli­tism is effi­ci­ent“, „greed is good“, „exclu­sion is neces­sary“, „pre­ju­dice is natu­ral“ und „des­pair is ine­vi­ta­ble“ – bauen wir unsere Gesell­schaft auf, geben das als Werte wei­ter und des­we­gen wird Ungleich­heit zemen­tiert und wei­ter­ge­ge­ben. Die­ses Buch unter­füt­tert den Gedan­ken, dass Werte auch eine Sozial-bil­dende Funk­tion haben, die weit über Indi­vi­duen mit ihren sub­jek­ti­ven Befind­lich­kei­ten hin­aus­geht.

Zwei­tes Bei­spiel um zu zei­gen, dass Werte nicht nur eine sub­jek­tive Kom­po­nente haben: Kwame Anthony Appiah, ein Phi­lo­soph in Har­vard, der sein letz­tes Buch „The Code of Honor“ genannt hat, im Deut­schen „Eine Frage der Ehre“. Seine These ist: „Wann gibt es Revo­lu­tio­nen?“ – Ant­wort: wenn es mora­li­sche Revo­lu­tio­nen gibt. Wann gibt es mora­li­sche Revo­lu­tio­nen? Ant­wort: Wenn sich der Ehren­ko­dex ändert. Und was ist der Ehren­ko­dex? Das, wofür man sich schämt oder nicht schämt. Den­ken Sie viel­leicht ans Recy­clen. Als ich im Jahr 1991 auf einer Jugend­ver­an­stal­tung in Frank­reich war, da sind wir mit einem katho­li­schen Pries­ter durch Tou­louse gefah­ren und die­ser Got­tes­mann hat das Fens­ter auf­ge­kur­belt und den Mist ein­fach hin­aus­ge­wor­fen auf die Straße und gesagt: „Am Mor­gen wer­den ohne­hin die Stra­ßen geputzt“. Ich habe mir damals gedacht, dass das eigent­lich nicht in Ord­nung ist. Und ich will die These ver­tre­ten, heute würde er sich schä­men, wenn er das tut. Weil man sich heute zu schä­men hat, wenn man Müll­tren­nung ver­wei­gert, den Hun­de­kot nicht auf­klaubt oder Dinge ein­fach weg­wirft. Das ist eine Frage der Ehre. So gese­hen zeigt Recy­cling eine mora­li­sche Revo­lu­tion. Man schämt sich für etwas, was man viel­leicht frü­her als selbst­ver­ständ­lich ange­se­hen hat. Recy­cling ist viel­leicht ein Bei­spiel, anhand des­sen man diese Dyna­mik nach­ver­fol­gen kann und es wäre schön, wenn es noch andere Wege gäbe. Das ist die beden­kens­werte These von Kwama Anthony Appiah: Mora­li­sche Revo­lu­tio­nen hän­gen mit einer Ver­än­de­rung des Ehren­ko­dex zusam­men und das wie­derum ist eine Ver­än­de­rung der Werte, die sehr tief geht, also bis zur Scham­röte geht und nicht bloß zu ratio­na­len Kal­kü­len. Wenn das so ist, sind wir wie­der bei Daniel Dor­ling: Werte haben eine Sozial-bil­dende und Insti­tu­tio­nen-bil­dende Funk­tion und in Zei­ten der Krise brau­chen wir Werte, weil sie uns Ent­schei­dungs­hil­fen geben, wo wir hin­schauen sol­len und wo wir hin­ge­hen soll­ten – und wenn uns etwas etwas bedeu­tet, wer­den wir auch bereit sein, Abstri­che zu machen und Kos­ten zu ent­rich­ten, ja: Opfer zu brin­gen.

Teil 2 folgt in der nächs­ten Aus­gabe der ÖÄZ


*) Univ. Prof. DDDr. Cle­mens Sedmak,
Uni­ver­si­tät Salzburg/​Zentrum für Ethik
und Armuts­for­schung;
E‑Mail: clemens.sedmak@sbg.ac.at

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 15–16 /​15.08.2011