E-Medikation: Chance: Neubeginn?

25.09.2011 | Politik

Die Veranstaltung „Brennpunkt Medizin – E-Medikation: Super-GAU bei Datenklau?“, die Anfang September von der Wiener Ärztekammer veranstaltet wurde, machte ihrem Namen alle Ehre: Am Podium wie auch im Publikum entbrannten erneut hitzige Diskussionen über den Sinn und Unsinn des Projekts.
Von Marion Huber

„An der Grenze zur Skurrilität“ sind die Auswüchse, die das Pilotprojekt E-Medikation annimmt, wie Johannes Steinhart, Vize-Präsident und Obmann der Kurie Niedergelassene Ärzte der Ärztekammer für Wien zu Beginn der Veranstaltung in Wien nachdrücklich betonte. Und dabei bezog er sich nicht nur auf die technischen Mängel und den zeitlichen Mehraufwand für die Ärzte, sondern machte auch auf die nach wie vor umstrittene Rechtssituation aufmerksam.

Dass nämlich die Rechtsfragen ganz und gar nicht ausgeräumt sind, erklärten Steinhart und Martin Oder, Rechtsanwalt bei Haslinger/Nagele & Partner, unisono. Oder dazu: „Das laufende Verfahren ist noch nicht abgeschlossen. Weder die Klage beim Verfassungsgerichtshof noch jene bei der EU-Kommission sind geklärt.“ Von Rechtssicherheit also keine Spur. Und mehr als ein „hohes Maß an Rechtssicherheit“ konnte selbst Clemens Auer, Sektionsleiter im Gesundheitsministerium, den Ärzten nicht versichern.

Christiane Körner, Vize-Präsidentin der Österreichischen Apothekerkammer, wünscht sich ein „gutes geschlossenes System, das für den Patienten den meisten Nutzen bringt und optimal läuft“. Nur eine optimale, Anwender-freundliche Lösung sei ein Erfolg, bekräftigte auch Auer. Genau an dieser Grund-Anforderung scheint das Pilotprojekt E-Medikation aber bislang zu scheitern.

Von seinen Erfahrungen aus der Praxis berichtete Erich Doblinger, Pilotarzt und Allgemeinmediziner aus Wien: ein System, das kurz nach der Installation ständig abstürzte; die Zustimmungserklärung des Patienten, die nur für zwölf Stunden gültig ist und danach erneuert werden muss; die verpflichtende Eingabe einer Begründung bei Inkaufnahme einer Medikamenteninteraktion. Insgesamt ein zeitlicher Mehraufwand von zwei Stunden pro Woche – bei einer eher mageren Teilnahme von nur 15 Prozent der Patienten. So sieht die E-Medikation aus Sicht eines Pilotarztes aus. Ob es auch einen Moment gab, wo das System nützlich war? „Ich habe bisher kein solches Highlight erlebt“, zog Doblinger Bilanz. Ähnliche Wortmeldungen von zahlreichen anderen, ebenfalls betroffenen Ärzten aus dem Publikum unterstrichen und verdichteten den negativen Gesamteindruck über die Erfahrungen mit der E-Medikation.

Angesichts des „katastrophalen Projektmanagements“ (Steinhart) und der Tatsache, dass bei 2.800 Verschreibungen etwa 2.200 Fehlermeldungen aufscheinen, sieht Steinhart im Pilotarzt eher ein „Versuchskaninchen“. Auch Hans G. Zeger, Obmann der ARGE Daten (Österreichische Gesellschaft für Datenschutz) kann der Abwicklung des Pilots nur wenig Positives abgewinnen: „So etwas wie bei diesem Pilotprojekt habe ich nicht einmal bei IT-Projekten in Banken oder kleinen Firmen erlebt!“

In erster Linie sind die Mängel rund um die Interaktionsprüfung augenscheinlich und auch Auer erkannte diese durchaus an: „Die Prüfdatenbank ist fehlerhaft.“ Dennoch sollten sich die Ärzte daran nicht „aufhängen“, sie sei nur zweitrangig und nicht als vorrangiger Zweck der E-Medikation zu verstehen. Dieser bestehe nämlich darin, die Medikation des Patienten zu erfassen. Denn die Interaktionsprüfung selbst erfolge – wie Auer eingestehen musste – „im Kopf der Ärzte“. Mit ihrem Wissen führen sie diese Prüfung seit Jahrzehnten und Jahrhunderten erfolgreich durch – auch ohne eine Datenbank, wie die Ärzte im Publikum allesamt bestätigen konnten. Warum also überhaupt eine Interaktionsprüfung?

Den Ärzten würde eine simple Medikamentenliste absolut ausreichen; für ein solches Projekt wäre mit großer Zustimmung von allen Seiten zu rechnen.

Für Zeger ist es schlichtweg der „falsche Ansatz, aus Gesundheitsbetreuung Prozessmanagement zu machen“. Prozessmanagement mache vielleicht bei Online-Banking oder einem eBay-Einkauf Sinn, aber: „Der Arztbesuch ist doch kein eBay-Einkauf!“, zeigte sich Zeger empört über den Umgang mit den Patienten. Bei der Gesundheitsbetreuung sei der Patient in seiner Entscheidung eingeschränkt; er komme als Hilfe-Suchender zum Arzt und könne nicht verschiedene Angebote einholen. Deshalb gibt es zwischen Arzt und Patienten ein eminent wichtiges Vertrauensverhältnis. Und gerade mit diesem Vertrauen des Patienten werde fahrlässig umgegangen.

Dass dieses Arzt-Patienten-Verhältnis und die Würde und Rechte des Patienten die vorrangigsten Anliegen sein sollten, unterstrich auch der Wiener Patientenanwalt, Prof. Konrad Brustbauer. Die Krux an der E-Medikation sei, dass aber gerade das Arzt-Patienten-Verhältnis darunter zu leiden scheine. „Wir haben keine Zeit mehr für unsere Patienten! Durch die technischen Probleme und den damit verbundenen Zeitverlust können wir nicht mehr mit den Patienten sprechen, sondern starren die meiste Zeit auf den Bildschirm. Das stört das Art-Patienten-Verhältnis!“, verschaffte eine Ärztin aus dem Publikum ihrem Ärger Luft – unter heftigem Applaus der anwesenden Ärzte.

Darüber hinaus sei es gar nicht notwendig, die Daten zentral und transparent zu speichern; die Ärzte seien ohnehin nicht mehr in der Steinzeit gefangen, in der sie mit Tontafeln die Patienten verwalten, machte Zeger seinen Standpunkt klar: „Es ist, als würde man mit Kanonen auf Spatzen schießen.“ Dem Patienten ginge es darum, beim Arzt einen Rat einzuholen; dass seine Daten schnell verwaltet werden, sei sicher nicht das Hauptanliegen des Patienten, konkretisierte Zeger.

„Mit der E-Medikation macht man aus dem Patienten eine Datensammlung anstatt ihn als Ganzes und individuell zu sehen! Für ihn ist das Horten von Millionen von Daten nicht das Wahre“, so eine weitere Wortmeldung aus dem Publikum. Diesen Aspekt der zentralen Datenspeicherung sieht auch Steinhart kritisch: „Der Datenschutz ist bei uns Ärzten noch dramatischer zu sehen, weil wir nun einmal der Schweigepflicht unterliegen. Aus ökonomischen Interessen soll darüber jetzt einfach hinweggegangen werden; dabei ist die Schweigepflicht die Basis jeder Beziehung zwischen Arzt und Patient!“

Während Brustbauer an den Willen aller appellierte, die Probleme doch noch gemeinsam zu lösen, äußerte Steinhart drei konkrete Forderungen: „Erstens, der endgültige Stopp des missglückten Projekts und eine Neuaufsetzung mit einer sinnvollen Datenbank; zweitens: juristische Unklarheiten müssen ausgeräumt und daher die Verfahren abgewartet werden; drittens, die absolute Freiwilligkeit für den Patienten.“ Der zustimmende Applaus aus dem Publikum gab ihm recht.

ÖÄK-Vorstand empfiehlt Fortsetzung

Der Vorstand der Österreichischen Ärztekammer hat in seiner Sitzung am 14. September in Wien beschlossen, den Pilotärzten zu empfehlen, freiwillig die Mitwirkung am Pilotversuch E-Medikation wieder aufzunehmen. Aus Gründen der Rechtssicherheit sollen jedoch keine aktiven Abwicklungshandlungen mit den Software-Firmen für und anstelle des Hauptverbandes vorgenommen werden.

Dieser Beschluss wurde unter folgenden Voraussetzungen gefasst:

  • Grundsätzlich ist das Pilotprojekt E-Medikation wichtig.
  • Wesentlichste Aufgabe der E-Medikation ist es, den Ärzten einen besseren Überblick über die Vormedikation des Patienten zu geben.
  • Konsens der Projektpartner ist, dass die Prüfdatenbank SIS derzeit kein taugliches Mittel ist. Daraus ergibt sich als Konsequenz, dass im Rollout nur eine lokale Interaktionsprüfung nach Ermessen des Arztes erfolgen wird. Der Arzt entscheidet, welche Software und in welcher Einstellung er die Interaktionsprüfung verwendet.
  • Grundsätzlich ist zu überlegen, ob die SIS-Datenbank nicht überhaupt aus dem System herauszunehmen ist.
  • Der Erklärung von Gesundheitsminister Alois Stöger zufolge, wonach er auf das Gutachten der Finanzprokuratur vertraue, haben die Ärzte keine Umgehung des Vergaberechts begangen, wenn sie anstelle des Hauptverbandes Serviceleistungen in Auftrag gegeben haben. Ab sofort vergibt der Hauptverband wieder die Aufträge und bezahlt sie auch. Stöger hat festgehalten, dass der Hauptverband die Rechtskonsequenzen zu tragen hat; diese treffen nicht den einzelnen Arzt.
  • Es muss sicher gestellt sein, dass der Arzt im System jedes Medikament und zu jeder Zeit verschreiben kann.
  • Die Pilotphase endet mit 31. Dezember 2011; danach folgt nur noch die Evaluierung.
  • Das Ergebnis der Evaluierung soll 2012 in das Projekt eingearbeitet werden.
  • Vor dem Rollout muss das Projekt ausgeschrieben werden.
  • Laut Stöger wird das Projekt E-Medikation nur fortgesetzt, wenn die Ärzte eine positive Beurteilung zum Pilotprojekt abgeben.
  • Die freiwillige Teilnahme der Pilotärzte bleibt aufrecht; ausscheidende Pilotärzte haben keine Konsequenzen zu tragen.

Der Vorstand der Ärztekammer Wien hat tags zuvor bekräftigt, dass sich die rechtliche Ausgangssituation, die zum Teilnahmestopp am Pilotprojekt E-Medikation geführt hat, sich vorläufig noch nicht geändert hat. Daher werde den in Wien am Pilotprojekt teilnehmenden Ärzten „ausdrücklich empfohlen, bis auf Weiteres am aktuellen E-Medikationsprojekt nicht teilzunehmen.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 18 / 25.09.2011