Sai­so­nale Depres­sion (SAD): Begleit­the­ra­pie Musik

25.11.2011 | Medizin


Musik­the­ra­pie hat – durch den posi­ti­ven Ein­fluss auf den Sero­to­nin- und Mela­to­nin-Stoff­wech­sel – zuneh­mend auch einen Stel­len­wert im mul­ti­dis­zi­pli­nä­ren Behand­lungs­an­ge­bot von Depres­sio­nen. Rund fünf Pro­zent der öster­rei­chi­schen Bevöl­ke­rung lei­den an sai­so­na­len Depres­sio­nen.

Von Eli­sa­beth Gerstendorfer

Stim­mungs­schwan­kun­gen, Müdig­keit und ein redu­zier­tes Ener­gie­ni­veau – das sind nur einige der Sym­ptome der sai­so­na­len Depres­sion (SAD – sea­so­nal affec­tive dis­or­der). Die so genannte Herbst-Win­ter-Depres­sion tritt vor allem zwi­schen Okto­ber und März auf. „Ein kla­res Kri­te­rium ist die Sai­so­na­li­tät, das heißt die Depres­sion ist Herbst- und Win­ter-gebun­den. Laut Defi­ni­tion muss der Pati­ent in den letz­ten drei Jah­ren drei Mal eine sai­so­nale Depres­sion gehabt haben, zumin­dest zwei­mal hin­ter­ein­an­der in die­sen Jah­ren. Auch wäh­rend des rest­li­chen Jah­res kön­nen depres­sive Epi­so­den auf­tre­ten, müs­sen aber nicht“, sagt Univ. Prof. Bernd Saletu von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Psych­ia­trie der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Wien.

Die Sym­ptome der sai­so­na­len Depres­sion ähneln denen einer depres­si­ven Ver­stim­mung: Die Pati­en­ten lei­den unter erhöh­ter Irri­ta­bi­li­tät, Angst, Trau­rig­keit, Unaus­ge­gli­chen­heit, Lethar­gie und haben Schwie­rig­kei­ten, aus dem Bett zu kom­men. „Bei bei­den For­men der Depres­sion kommt es zu Stö­run­gen des Antriebs und des Affekts. Der Unter­schied liegt im Schlaf. Die Depres­sion ist eher durch einen Man­gel an Schla­fef­fi­zi­enz cha­rak­te­ri­siert, einen Man­gel an Tief­schlaf und eine ver­kürzte REM-Latenz. Bei der sai­so­na­len Depres­sion besteht hin­ge­gen ein ver­mehr­tes Schlaf­be­dürf­nis“, so Saletu. Hinzu kom­men ein ver­stärk­ter Appe­tit und Cra­ving ins­be­son­dere für Süßig­kei­ten ein­her­ge­hend mit Gewichts­zu­nahme, wäh­rend depres­sive Pati­en­ten typi­scher­weise unter Appe­tit­lo­sig­keit und Gewichts­ver­lust leiden.

Sero­to­nin mitbeteiligt

Als Ursa­chen der Herbst-Win­ter-Depres­sion gel­ten vor allem der Man­gel an natür­li­chem Tages­licht sowie die ver­min­derte Licht­in­ten­si­tät im Win­ter. Auf­grund des Licht­man­gels, der über die Netz­haut der Augen und die Ver­bin­dung mit der Epi­physe regis­triert wird, erhöht sich die Aus­schüt­tung von Mela­to­nin, des­sen Kon­zen­tra­tion im Gehirn zu Ver­än­de­run­gen des Schlaf-Wach-Rhyth­mus führt. In der Folge kommt es zu Müdig­keit, Schlapp­heit und Stim­mungs­ein­fall. Auch Sero­to­nin ist sehr wahr­schein­lich an der Ent­ste­hung der Win­ter­de­pres­sion betei­ligt. Gestützt wird diese Annahme durch Behand­lungs­er­folge mit sero­to­n­er­gen Anti­de­pres­siva sowie das Sym­ptom des Heiß­hun­gers auf Süßes, mit dem der Kör­per ver­sucht, den Sero­to­nin-Man­gel im Gehirn aus­zu­glei­chen. Psy­cho­so­ziale Fak­to­ren sind nicht für die sai­so­nale Häu­fung verantwortlich.

Im ICD-10 wird die sai­so­nale Depres­sion als Son­der­form der affek­ti­ven Stö­run­gen klas­si­fi­ziert und den rezi­di­vie­ren­den depres­si­ven Stö­run­gen zuge­ord­net; der DSM-IV kate­go­ri­siert sie als Sub­typ der Major Depres­sion Epi­sode. Abge­grenzt wer­den muss die Herbst-Win­ter-Depres­sion von einer deut­lich schwä­che­ren Vari­ante, der sub­syn­droma­len SAD (s‑SAD) – auch „Win­ter-Blues“ genannt. Die Betrof­fe­nen sind antriebs­los und miss­ge­launt, lei­den aber nicht unter dem Voll­bild der sai­so­na­len Depres­sion. Ent­schei­dend sind die Aus­prä­gung der Beschwer­den sowie ihre Begleiterscheinungen.

In Öster­reich lei­den rund fünf Pro­zent der Bevöl­ke­rung an der sai­so­na­len Depres­sion. In wei­ter süd­lich gele­ge­nen Län­dern ist die Zahl der depres­si­ven Erkran­kun­gen in den Win­ter­mo­na­ten wesent­lich gerin­ger bezie­hungs­weise gibt es sie kaum. In nörd­li­che­ren Län­dern – wie zum Bei­spiel in Alaska – erkran­ken wäh­rend der Win­ter­mo­nate bis zu zehn Pro­zent der Men­schen. Die sai­so­nale Depres­sion kann in allen Alters­stu­fen – auch im Kin­des- und Jugend­al­ter – auf­tre­ten; etwa 75 Pro­zent der Betrof­fe­nen sind Frauen.

Licht: The­ra­pie der ers­ten Wahl

In der Regel han­delt es sich bei der sai­so­na­len Depres­sion um eine leich­tere Form einer affek­ti­ven Stö­rung. Oft kann die Herbst-Win­ter-Depres­sion daher durch „Selbst­me­di­ka­tion“ wie Bewe­gung an der fri­schen Luft oder wohl­tu­ende Tätig­kei­ten effek­tiv behan­delt wer­den. Bei leich­ten Depres­sio­nen kann eine Johan­nis­kraut­zu­be­rei­tung als Tro­cken­ex­trakt in Kap­sel­form wirk­sam sein.

Bei mit­tel­gra­di­ger und schwe­rer sai­so­na­ler Depres­sion hin­ge­gen kann durch eine kon­se­quente The­ra­pie der depres­si­ven Epi­sode gehol­fen wer­den. Die bevor­zugte Behand­lung ist Licht­the­ra­pie, bei der Pati­en­ten regel­mä­ßig 30 Minu­ten bis zu vier Stun­den vor einem Licht­ge­rät mit einer Inten­si­tät von 2.500 bis 10.000 Lux sit­zen. Bereits nach weni­gen Tagen kann es zu Ver­bes­se­run­gen kom­men. „Die Licht­the­ra­pie kann über einen begrenz­ten Zeit­raum als The­ra­pie der ers­ten Wahl ange­se­hen wer­den, am ehes­ten bei ambu­lan­ten Pati­en­ten. Bei schwe­re­ren For­men der Erkran­kung sollte Licht­the­ra­pie nur als Zusatz zur psy­cho­phar­ma­ko­lo­gi­schen Behand­lung und/​oder Psy­cho­the­ra­pie ange­wen­det wer­den“, sagt Univ. Prof. Harald Aschauer von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Psych­ia­trie und Psy­cho­the­ra­pie der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Wien. Als am meis­ten wirk­sam haben sich akti­vie­rende nor­adr­en­erge oder sero­to­n­erge Anti­de­pres­siva, vor allem Selek­tive Sero­to­nin-Wie­der­auf­nah­me­hem­mer (SSRIs), erwiesen.

Im mul­ti­dis­zi­pli­nä­ren Behand­lungs­an­ge­bot von Depres­sio­nen gewinnt zuneh­mend auch die Musik­the­ra­pie an Bedeu­tung. „Neuere neu­ro­bio­lo­gi­sche Stu­dien zei­gen, dass Musik­the­ra­pie einen posi­ti­ven Ein­fluss auf den Sero­to­nin- und Mela­to­nin-Stoff­wech­sel hat – bei­des Hor­mone, die mit der Patho­phy­sio­lo­gie der Win­ter-Depres­sion in Zusam­men­hang gebracht wer­den“, sagt Univ. Prof. Tho­mas Ste­ge­mann, Fach­arzt für Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie, der zugleich Musik­the­ra­peut und Lei­ter der Abtei­lung für Musik­the­ra­pie an der Uni­ver­si­tät für Musik und dar­stel­lende Kunst Wien ist. „Außer­dem wer­den durch die Musik­the­ra­pie Syn­chro­ni­zi­täts-Pro­zesse ange­regt. Ver­steht man die sai­so­nale Depres­sion als ‚Rhyth­mus­stö­rung‘ und eine Desyn­chro­ni­sa­tion der bio­lo­gi­schen Rhyth­men, lässt sich nach­voll­zie­hen, warum Musik gerade in der ‚dunk­len Jah­res­zeit‘ zu vie­len Fes­ten und Ritua­len, wie etwa dem Sin­gen unterm Christ­baum, dazu­ge­hört“, so Stegemann

Grund­sätz­lich unter­schei­det man zwi­schen akti­ver und rezep­ti­ver Musik­the­ra­pie. Bei der akti­ven Musik­the­ra­pie musi­zie­ren The­ra­peut und Patient/​en gemein­sam; meist wird auf ein­fach zu spie­len­den Instru­men­ten impro­vi­siert. Bei der rezep­ti­ven Musik­the­ra­pie geht es um das gemein­same Hören und Erle­ben von Musik wie zum Bei­spiel zur Ent­span­nung mit the­ra­peu­ti­scher Ziel­set­zung. „Musik wirkt gene­rell Stim­mungs-auf­hel­lend. Dies zei­gen über­ein­stim­mend eigene Erfah­run­gen sowie viele Stu­dien, die das sub­jek­tive Erle­ben unter­sucht haben. Dar­über hin­aus lässt sich anhand neu­ro­bio­lo­gi­scher Stu­dien zei­gen, dass Musik und Musik­the­ra­pie posi­tiv auf Stress- und Immun­pa­ra­me­ter wir­ken. Auch das Bin­dungs­hor­mon Oxy­to­cin wird ver­mehrt aus­ge­schüt­tet, wenn wir musi­ka­lisch aktiv sind“, erklärt Stegemann.

Musik als Selbstmedikation

In einer aktu­el­len fin­nisch-nor­we­gi­schen Stu­die konnte gezeigt wer­den, dass bei depres­si­ven Pati­en­ten Musik­the­ra­pie als zusätz­li­ches Behand­lungs­ver­fah­ren zur sonst übli­chen „Stan­dard­be­hand­lung“ mit Kurz­zeit-Psy­cho­the­ra­pie und anti­de­pres­si­ver Medi­ka­tion im Ver­gleich zur allei­ni­gen „Stan­dard­be­hand­lung“ signi­fi­kant bes­sere Erfolge in Bezug auf die depres­sive Sym­pto­ma­tik, Angst-Sym­ptome und das all­ge­meine Funk­ti­ons­ni­veau erzielte. „Über­wie­gend arbei­ten Musik­the­ra­peu­ten in Ein­rich­tun­gen zur The­ra­pie affek­ti­ver Stö­run­gen aber auch in eige­ner Pra­xis. Am häu­figs­ten wird Musik als Selbst­me­di­ka­tion von den Betrof­fe­nen – wahr­schein­lich eher unbe­wusst als bewusst – ein­ge­setzt, wenn bei­spiels­weise ‚Gute-Laune-Musik’ gehört wird. Musik­the­ra­pie ist also ein rela­tiv kos­ten­güns­ti­ges und neben­wir­kungs­ar­mes ‚Medi­ka­ment‘, das ver­mehrt zur Behand­lung von depres­si­ven Stö­run­gen ein­ge­setzt wer­den sollte“, so das Resü­mee von Ste­ge­mann.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 22 /​25.11.2011