Kinder und Bewegung: Maßnahmen gefordert

10.09.2011 | Medizin


Das motorische Leistungsniveau der Schulkinder ist erschreckend schlecht. Das hat auch negative Auswirkungen auf die Neurogenese und die Kognition, wie Studien zeigen. Erstmals wird die jetzige Generation von Kindern und Jugendlichen früher sterben als die Eltern-Generation.

Von Birgit Oswald

Der Grundstein für viele körperliche Beschwerden wird bereits durch Bewegungsmangel im Kindesalter gelegt, wie auch die von der Universität Salzburg in Kooperation mit dem Unterrichtsministerium durchgeführte Studie „Klug & Fit“ zeigt. Dabei wurde die motorische Leistungsfähigkeit von 67.000 Schülern zwischen zehn und 15 Jahren untersucht. Erhoben wurden alle motorischen Fähigkeiten, die direkte Relevanz zur Gesundheit haben, also Ausdauer in Hinblick auf Herz-/Kreislauftätigkeit, Koordinationsfähigkeit in Hinblick auf Sturzprophylaxe sowie Kraftfähigkeiten in Hinblick auf Knochenstatus und Rückenbeschwerden. Anschließend wurden die Messergebnisse mit Referenzdaten von Kindern zwischen dem sechsten und 20. Lebensjahr aus den 1980er Jahren verglichen. Ergebnis: Vor 30 Jahren wurde das höchste Leistungsniveau von Koordination, Kraft und Ausdauer bei den männlichen Probanden zwischen dem 17. und 19. Lebensjahr erreicht, bei den Mädchen zwischen dem 16. und 17. Lebensjahr. Heute ist das maximale Leistungsniveau schon mit zwölf Jahren erreicht und steigt nicht mehr an, wie Studienleiter Univ. Prof. Erich Müller vom Institut für Sport- und Bewegungswissenschaft der Universität Salzburg erklärt: „Das motorische Leistungsniveau unserer Schuljugend ist in einem sehr schlechten Zustand. Innerhalb einer sehr kurzen Zeit hat sich die körperliche Leistungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen dramatisch verschlechtert!“

Die Studie hat darüber hinaus auch noch ein weiteres Detail erbracht: Bei den Mädchen nehmen die Koordinationsfähigkeit und die Herz-/Kreislauf-Tätigkeit sogar schon ab dem zwölften Lebensjahr ab. Grund dafür ist die früher einsetzende Pubertät, die eine sozial bedingte Bewegungsinaktivität zur Folge hat. „Wenn sich Kinder noch bewegen, dann bis zum achten, neunten oder höchstens zehnten Lebensjahr. Bis hin zur Vorpubertät gibt es noch keine großen Unterschiede in der motorischen Entwicklung zwischen Buben und Mädchen. Mit Beginn der Pubertät ändert sich das und das körperliche Leistungsniveau entwickelt sich nicht mehr weiter“, so Müller. Speziell in dieser Phase seien äußere Anreize wichtig, da der kindliche Bewegungsdrang nachlässt.

Aber nicht nur zwischen den Geschlechtern gibt es Unterschiede; es zeigen sich auch regionale Auffälligkeiten: Die Kinder im Osten Österreichs haben der Studie zufolge schlechter abgeschnitten als die Schüler im Westen des Landes.

Ausreichende Bewegung hat nicht nur im Hinblick auf die körperliche Gesundheit Auswirkungen; auch die kognitiven Fähigkeiten werden beeinflusst. Im Tierversuch mit Mäusen konnte gezeigt werden, dass Bewegung positiv auf die Entwicklung von neuronalen Netzen im Gehirn wirkt. „Mäuse, die täglich freiwillig mehrere Stunden am Laufband rannten, konnten 70 Prozent mehr Neuronen und Synapsen entwickeln als Mäuse ohne Bewegung“, erklärt Müller. Die Neurogenese findet aber nur bei freiwilliger Bewegungsaktivität statt. Bei unfreiwilliger Bewegung werden Stresshormone ausgeschüttet, die kontraproduktiv wirken und die Neurogenese verhindern.

Die kindlichen Neuronen durchlaufen eine ähnliche Entwicklung. Hier geht es vor allem um die exekutiven Funktionen. Diese sind großteils im präfrontalen Kortex verankert, der mit perzeptionellen, motorischen und limbischen Regionen des Gehirns vernetzt ist. „Das sind kognitive Funktionen von Kindern, die die spätere Schulleistung schon sehr früh vorhersehen lassen. Kinder, bei denen die exekutiven Funktionen gut ausgeprägt sind, haben etwa ein geringeres Risiko, verhaltensauffällig zu werden. Außerdem erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, gute schulische Leistungen bis an das Ende der schulischen Ausbildung zu erzielen, wenn Kinder im Alter von zwölf bis 13 Jahren gute Ergebnisse bei den exekutiven Funktionen erreichen“, erklärt Müller. Für die Schulleistung relevante exekutive Funktionen sind etwa das Arbeitsgedächtnis oder die Inhibition, also die Fähigkeit, bestehende Störgrößen auszublenden. Auch die kognitive Flexibilität ist ein Teil: Sie besteht darin, sich schnell auf neue Anforderungen einstellen zu können. Die exekutiven Funktionen sagen weit mehr über die Schuleignung aus als der Intelligenzquotient der Kinder, unterstreicht der Experte. Exekutive Funktionen werden wiederum dann besonders gefördert, wenn sich Kinder viel bewegen, besonders Ausdauer-, Koordinations- und Krafttraining haben positive Effekte.

Weiters konnte gezeigt werden, dass eine morgendliche Bewegungseinheit von 30 Minuten die schulische Aufmerksamkeit erhöht und der kognitive Effekt viel größer ist. Das zeigt wiederum, dass nicht nur körperliche Gesundheit, sondern auch kognitive Gesundheit mit Bewegung korreliert; diese Ergebnisse würden auch laufend bestätigt. „In keiner anderen Lebensphase spielt Bewegung zur langfristigen Förderung einer gesunden Entwicklung eine so wichtige Rolle wie im Kindesalter“, unterstreicht der Experte. Das Mindestmaß an täglicher Bewegung beträgt eine Stunde.

Auswirkungen des Bewegungsmangels

Ein Blick in die Zukunft lässt nichts Gutes für die junge Generation erahnen. Schon die jetzige Generation der 40- bis 50-Jährigen hat mit vielen gesundheitlichen Schwierigkeiten aufgrund von Bewegungsmangel zu kämpfen. Kommen die Kinder und Jugendlichen dieser Generation in dieses Alter, werden die gesundheitlichen Auswirkungen noch viel schwerwiegender sein. „Krankheitsbilder wie Übergewichtigkeit, Stoffwechselerkrankungen, Herz-/Kreislauf-Erkrankungen, Osteoporose, Depressionen, kognitive Störungen sowie Verhaltensauffälligkeiten werden das Leben dieser Generation prägen. Es gibt Studien und Experten, denen zufolge diese junge Generation die erste Generation sein wird, die durchschnittlich früher sterben wird als deren Eltern“, erklärt Müller.

Der Experte plädiert daher dringend dafür, mehr Bewegung in den Alltag der Kinder zu integrieren. Dazu gibt es viele Ansätze, die eine deutliche Verbesserung des gesundheitlichen Zustandes der Kinder zur Folge hätten. Grundsätzlich müsse sich die Öffentlichkeit des Problems annehmen, wie der Experte erklärt: „Die gesamte Gesellschaft trägt die Verantwortung, den Kindern das Recht auf Bewegung zu gewährleisten, damit die junge Generation die Möglichkeit hat, sich der Natur gemäß zu entwickeln, also sowohl die körperlichen als auch kognitiven Funktionen ausreichend auszubilden.“

Breite Maßnahmen

Die Maßnahmen müssten folglich besonders breit angelegt werden. Das betrifft zum einen die Politik, zum anderen die Eltern sowie die Ausbildungsstätten, Städte, Gemeinden und Kommunen. „Letztendlich wird es nicht anders gehen, als für das Kind ein Mindestmaß an Bewegung sicherzustellen. Das kann natürlich in Kindergärten und Schulen am besten organisiert werden“, erklärt Müller. Bereits der Weg zur Schule bietet sich für körperliche Aktivität an. Kinder selbst nur für kurze Wegstrecken mit dem Schulbus in die Schule zu bringen, ist nach Ansicht des Sportwissenschafters kontraproduktiv. Im Zuge des Projekts „bewegter Schulweg“ etwa wird der Schulweg für Kinder kreativ gestaltet. Schon morgens können die Kinder auf dem Schulweg klettern und balancieren üben oder fangen spielen. So kommen die Schüler nicht nur sicher, sondern auch ausgeglichen in der Schule an und erbringen eine bessere kognitive Leistung im Unterricht. „Ähnlich wie man Erwachsenen in Städten die Möglichkeit bietet, mit dem Fahrrad zur Arbeit zu kommen, muss es solche Konzepte auch für Kinder geben“, fordert Müller.

Öffentliche Einrichtungen der Städte und Gemeinden können einen Beitrag leisten, indem Bewegungswelten geschaffen werden, die Kinder zu sportlicher Aktivität motivieren. So müsse als Beispiel beim Bau von Wohnanlagen nicht nur auf eine ausreichende Anzahl von Garagenplätzen geachtet werden, sondern auch auf genügend Bewegungsflächen für Kinder.

Außerdem sieht der Experte punkto Freizeitsportmöglichkeiten Handlungsbedarf. Immer noch seien soziale Barrieren Ausschlag gebend, ob ein Kind eine Sportart in der Freizeit ausübt oder nicht. Das betrifft etwa Skifahren, Eislaufen oder die Nutzung von Schwimmbädern. Seine Forderung: Kinder sollten Freizeitanlagen wie Eislaufplätze oder Skilifte gratis benützen können. Dieser niedrigschwellige Zugang könne jedoch nur ein Anfang sein, wie Müller erklärt: „Die Anlage allein genügt heute nicht mehr, um Kinder dazu zu bringen, diese zu nutzen. Nach dem Vorbild der Musikschulen wird es notwendig sein, Bewegungsschulen einzurichten, wo auch geschulte Personen zur Verfügung stehen, die die Kinder motivieren und ihnen den Umgang mit den Sportgeräten beibringen. Bewegung macht nur dann Spaß, wenn sie gekonnt wird. Wenn sich Kinder wiederum gerne bewegen, werden sie das bis ins Erwachsenenalter gerne tun“, so Müller. Deshalb sollten Bewegungsanreize immer besonders motivierend gestaltet werden.

Wie so etwas gelingen kann, zeigen bereits sechs Bewegungskindergärten in Vorarlberg, die mit besonders animierenden und spielerischen Verfahren Kinder zu mehr körperlicher Aktivität motivieren (siehe Kasten).

Projekte in Vorarlberg:

Projekt X-Large

Das Projekt X-Large ist ein Programm für übergewichtige Kinder und Jugendliche zwischen acht und 16 Jahren sowie deren Eltern. Die Kinder werden von einem Team bestehend aus Medizinern, Ernährungsberatern, Psychologen und Fitnesstrainern betreut. Zweimal wöchentlich findet ein Bewegungstraining statt. Auch Kochkurse sowie Ernährungsberatung und Hilfestellung zur Verhaltensänderung werden angeboten. Die Kinder werden in Kleingruppen mit bis zu 15 Teilnehmern betreut. Alle größeren Gemeinden Vorarlbergs bieten das Projekt an; jeden Monat besteht die Möglichkeit, neu ins Programm einzusteigen.
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Projekt Vorarlberg >>bewegt

Bei diesem von der Vorarlberger Landesregierung groß angelegten Projekt soll Freude an Bewegung an die Bevölkerung vermittelt werden. Dazu Landesrat Siegmund Stemer: „Mit diesem Projekt haben wir das Ziel, in unserem Bundesland eine Bewegungskultur zu schaffen!“ Mindestens dreimal in der Woche soll Bewegung Thema werden. In den Kindergärten werden die Kinder für das Projekt motiviert und bei Interesse nimmt der Kindergarten an einem Projekt teil wie zum Beispiel am Kindermarathon oder an Familienbewegungstagen.
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Projekt Bewegungskindergärten

Bewegungskindergärten sind speziell ausgestattete Kindergärten, die den Kindern ein besonders Bewegungs-förderndes Umfeld bieten, damit sie ihren natürlichen Bewegungsdrang ausleben können. Das Projekt wurde vom Sportservice Vorarlberg gemeinsam mit dem Kindergarten-Inspektorat ins Leben gerufen. Die Schwerpunkte liegen auf Bewegung und Sprache, Bewegung und Musik, Bewegung und Natur. Ein tägliches Minimum von 15 Minuten Bewegung ist vorgeschrieben; eine tägliche Zeit in der Natur von drei Stunden ist verpflichtend. Auch Bewegungspausen müssen eingehalten werden. Die Kinder werden von ausgebildeten Kindergärtnerinnen begleitet. Ziel ist es, dass Kinder Freude an Bewegung finden und die körperliche Aktivität auch in der späteren Schulzeit ausüben. Motorische Grundfertigkeiten sollen erlernt und Sozial-Erfahrungen gesammelt werden. Bisher gibt es sechs zertifizierte Kindergärten, viele weitere sind im Aufbau. Bewegungskindergärten unterliegen klaren Richtlinien, die durch ein Qualitätssiegel gesichert sind.
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Weitere Aktionen in Kindergärten:

Bewegungsbaustellen:

Dabei werden immer wieder neue Bewegungsbaustellen aufgebaut, wo die Kinder Koordination, Gemeinschaft und Geschicklichkeit üben können. Zum Einsatz kommen verschiedenste Geräte wie etwa Langbänke oder Niederseil-Parcours. Geräte werden auch kreativ eingesetzt: Steht etwa kein Basketballkorb zur Verfügung, wird ein Regenschirm verwendet. Dadurch wird die Kreativität der Kinder angeregt und Bewegung kann im Alltag, wo kaum Geräte zur Verfügung stehen, eingebaut und gelebt werden. Die Ideen für die Bewegungsbaustellen kommen von den Kindern, sie können sich ihrem Entwicklungsstand entsprechend austoben. Dadurch sind sie so sehr motiviert, dass sie viele Stunden freiwillig im Turnsaal verbringen. Die Kinder beschäftigen sich kreativ mit ihrem Körper und ihrem Können und helfen sich gegenseitig. Circa 80 Prozent der Kindergärten in Vorarlberg bieten bereits Bewegungsbaustellen an.
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Projekt „Mut tut gut“ – Bewegungskarten

Im Rahmen des Projekts „Mut tut gut“ stehen 80 Karten mit inspirierenden Bewegungsangeboten für den motorischen Basisunterricht zur Verfügung. Dabei dürfen die Kinder eine Karte ziehen und die auf der Karte vorgegebene Bewegung vorturnen. Es gibt auch leere Karten, wodurch die Fantasie der Kinder für eigene Übungen angeregt werden soll. Jedes Kind drückt seine Übung individuell durch eine kleine Zeichnung auf der Karte aus. Durch den kreativen Input sind die Kinder sehr motiviert, neue Übungen zu erfinden oder die der anderen Kinder nachzuturnen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 17 / 10.09.2011