Interview – Univ. Prof. Jürgen Sandkühler: Grundlagenforschung für die Praxis

10.02.2011 | Medizin

Wie neuroimmunologische, immunkompetente Zellen das Nervensystem angreifen und so zur Entstehung von Multipler Sklerose beitragen, ist nur eine der zahlreichen Tätigkeiten des Zentrums für Hirnforschung am Wiener AKH. Mit dem Leiter des Instituts, Univ. Prof. Jürgen Sandkühler, sprach Corina Petschacher anlässlich des zehnjährigen Bestehens.


ÖÄZ: Können Sie uns einen kurzen Einblick in Ihr Institut geben?

Sandkühler: Am Zentrum für Hirnforschung sind rund 120 Mitarbeiter aus 21 Nationen beschäftigt, es herrscht also ein reger Zulauf aus anderen Ländern. Wir haben in den zehn Jahren, die unser Zentrum besteht, an internationaler Sichtbarkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität gewonnen. Von den Neurowissenschaften geht nicht nur eine einzigartige Faszination aus, sie sind auch die Grundlage für eine klinisch relevante Forschung, die dem Patienten zugute kommt.

Woran wird im Zentrum für Hirnforschung genau gearbeitet?

Unser Schwerpunkt sind translationale Fragestellungen, also Grundlagenforschungen, die häufig einen engen Bezug zu klinisch relevanten Themen haben. Besonderes Augenmerk gilt den Forschungsbereichen Schmerz, Multiple Sklerose, Epilepsie und Kognition. Uns interessiert, wie Nervenzellen miteinander an den synaptischen Kontaktstellen kommunizieren, welche Neurotransmittermoleküle und Rezeptoren dabei eine Rolle spielen und was passiert, wenn diese Verbindungen durch mangelhafte Regeneration oder durch Degeneration zu Grunde gehen.

Welche „Highlights“ hat es in den vergangenen zehn Jahren gegeben?

Arbeitsgruppen an unserem Zentrum konnten die molekularen Ursachen der Multiplen Sklerose weiter aufklären und neue, bislang unbekannte Zusammenhänge über die Entstehung der Krankheit aufdecken: Zum Beispiel wie neuroimmunologische, immunkompetente Zellen das Nervensystem angreifen und so zur Entstehung der Krankheit beitragen können. Ein weiteres Forschungsthema betrifft den Überträgerstoff Dopamin, der bei der Parkinson´schen Erkrankung eine wichtige Rolle spielt. Der Entdecker des Zusammenhangs zwischen Dopamin und der Parkinson´schen Erkrankung, Prof. Oleh Hornykiewicz, arbeitet nach wie vor aktiv an unserem Institut mit. Ein Highlight aus der Biochemie und molekularen Biologie stellt die Aufklärung der Struktur des GABA-A-Rezeptors bis auf die atomare Ebene dar. Dadurch können mögliche Bindungsstellen für Medikamente an diesen Rezeptor erforscht werden. Unsere Wissenschaftler erforschen Rezeptoren und deren Überträgerstoffe, die bei Erkrankungen wie der Epilepsie eine Rolle spielen. Hier ist es uns gelungen, Substanzen zu identifizieren, die aufgrund ihres völlig neuen Wirkmechanismus eine breite Anwendung in der Behandlung verschiedenster Epilepsien finden.

Wo liegen die Schnittstellen der aktuellen Hirnforschung zur Klinik?
Unsere Ergebnisse können sowohl bei der Therapie als auch bei der Diagnose und Prävention für die Klinik von hoher Relevanz sein. Um neue Therapien für Erkrankungen wie beispielsweise die Multiple Sklerose etablieren zu können, müssen zunächst die Krankheitsmechanismen im Detail bekannt sein. So stellen zum Beispiel die Erkenntnisse, die wir durch die Multiple Sklerose-Forschung an unserem Zentrum gewonnen haben, heute die Basis für die Therapie der multiplen Sklerose dar. Bei der Epilepsie gelang es in Zusammenarbeit mit der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, genetische Ursachen für Epilepsien des Kindesalters zu identifizieren, die nun zur Entwicklung neuer Therapien verwendet werden. Die Ergebnisse zur Struktur des GABA-A-Rezeptors ermöglichen es, anhand von Rechenmodellen mögliche Bindungsstellen für Medikamente an diesen Rezeptor zu ermitteln, was eine wichtige Voraussetzung für das sogenannte computer-aided drug design, also die Computer-unterstützte Entwicklung neuer Medikamente darstellt. Im Bereich der Schmerzforschung untersuchen wir, wie chronische Schmerzen durch Veränderungen der Signalverarbeitung im Rückenmark entstehen, was man als Kliniker machen muss, um das zu verhindern und in Zukunft vielleicht sogar, um ein bereits vorhandenes Schmerzgedächtnis wieder umkehren zu können. Außerdem bietet unser Institut eine Reihe von Serviceleistungen für klinische Abteilungen an, wie zum Beispiel die Zusendung von Gewebematerial zur genauen Analyse und Diagnosestellung, wo neueste Erkenntnisse und Methoden zur Anwendung kommen. Wir setzen ein breites Spektrum an State of the Art-Technologien an unserem Institut ein, beginnend bei bildgebenden Verfahren, wie beispielsweise der Zwei-Photonen Laserscanning-Mikroskopie bis hin zu elektrophysiologischen Verfahren, bei denen man die elektrische Aktivität einzelner Nervenzellen in Echtzeit messen kann. Moderne molekularbiologische Verfahren werden eingesetzt, beispielsweise um das Ablesen einzelner Gene zu steuern oder um Marker zu setzen, die besonders in bestimmten Zelltypen exprimiert werden.

Sie sind nicht nur Direktor des Zentrums, sondern leiten auch selbst eine Abteilung, die sich hauptsächlich mit dem Thema Schmerzforschung auseinandersetzt. Woran arbeiten Sie momentan konkret?
Unsere Abteilung für Neurophysiologie beschäftigt sich mit den Ursachen für die Verstärkung und Chronifizierung von Schmerz. Starke oder unzureichend behandelte Schmerzreize werden vom Nervensystem nicht nur einfach in Form von Nervenzellerregungen übertragen, sondern verändern auch die Arbeitsweise des Nervensystems, machen es empfindlicher. Es gibt ein sogenanntes Schmerzgedächtnis. Wir konnten zeigen, dass die chemische Übertragung der Erregung von Nervenzelle zu Nervenzelle an den Synapsen lang anhaltend potenziert werden kann, wenn es zu starken oder lang anhaltenden Schmerzen kommt. Dasselbe geschieht auch bei einem abrupten Abbruch einer Opiattherapie.

Was bringt die Zukunft für die Neurowissenschaften in Österreich?
Wir haben die Perspektive, dass in Maria Gugging am Institute of Sience and Technology Austria eine neue Arbeitsgruppe eingerichtet wird, die von Prof. Peter Jonas aus Freiburg geleitet werden wird, der sich ebenfalls mit den Neurowissenschaften beschäftigt. So wird in Zukunft der neurowissenschaftliche Standort Großraum Wien weiter gestärkt und die internationale Sichtbarkeit weiter erhöht. Was allerdings die Fördermittel für unsere Wissenschaft in Österreich betrifft, ist wegen der zu erwartenden Budgetknappheit in den nächsten Jahren, in denen das Budget der Universitäten eingefroren werden soll, mit einem Mangel an dringend benötigten Forschungsgeldern zu rechnen. Wir befürchten, dass die medizinische Forschung in Österreich ihre internationale Sichtbarkeit und Wettbewerbsfähigkeit einbüßen könnte. Das zarte Pflänzlein der Neurowissenschaften, das in Österreich gerade zu wachsen begonnen hat, könnte leicht durch budgetäre Kürzungen zerstört werden. Für die Zukunft haben wir uns vorgenommen, unsere Forschungsanstrengungen zu bündeln und uns zu bemühen, die im Großraum Wien in den Neurowissenschaften tätigen Arbeitsgruppen zu gemeinsamen Forschungsverbänden zusammen zu führen.

Was sind Ihre Wünsche, Ziele und Hoffnungen für die nächsten zehn Jahre des Instituts?
Unsere Vision ist, dass wir translationale Forschung betreiben, die eine hohe Relevanz für die klinische Anwendung mit sich bringt. Wir wünschen uns, dass wir bei der Rekrutierung neuer Mitarbeiter und Arbeitsgruppen international führende Persönlichkeiten gewinnen können, die mit uns die Überzeugung teilen, dass wir zum Wohle der Patienten neurowissenschaftliche Forschung betreiben sollten. Unser Institut ist mit 120 Mitarbeitern im internationalen Vergleich noch relativ klein und ich würde mir wünschen, dass es uns in den nächsten Jahren gelingt, weitere Forschungsgruppen dazu zu gewinnen und dass wir langsam organisch, qualitativ hochwertig wachsen können.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 3 / 10.02.2011