Höhentourismus: Bergsteigen in extremen Höhen

15.07.2011 | Medizin

Große und extreme Höhen sind Bereiche, in denen der Mensch an sich nichts verloren hat. Umso erstaunlicher ist es daher, dass der Tourismus in großen und extremen Höhen massiv expandiert: Jährlich werden auf dem Mount Everest pro Saison bis zu 300 Expeditionsgruppen mit insgesamt rund 6.000 Teilnehmern gezählt.
Von Franz Berghold*

Am Beginn des 20. Jahrhunderts hatten die Landkarten der Welt noch viele weiße Flecken, die den Entdeckerdrang des Menschen herausforderten. Nach den Abenteurern kamen Forscher, dann die Landvermesser, und schließlich die Makler einer Profit-orientierten Tourismus-Industrie, um die Wildnis der Wüsten, Urwälder und schließlich auch der entlegensten Hochgebirge der Erde für jedermann käuflich und verfügbar zu machen.

Große (2.500 bis 5.300 Meter) und extreme (5.000 Meter bis zum Everest-Gipfel, 8.848 Meter) Höhen sind Bereiche, in denen der Mensch biologisch eigentlich nichts verloren hat. Trotzdem ist der Reiz der Höhe enorm: Schätzungen der WHO zufolge suchen jährlich etwa 40 Millionen Reisende große und extreme Höhen auf. Rund 420 Millionen Menschen leben ständig in Gebirgsregionen; mehr als 40 Millionen davon in Regionen oberhalb von 2.500 Meter sowie 25 Millionen in Höhen über 3.500 Meter Seehöhe. Dass bedeutet, dass mehr als 180 Millionen Menschen dem Höhenrisiko (Höhenkrankheit, Höhentod) ausgesetzt sind; jedes Jahr werden es mehr. Beispiel Himalaya: Die offizielle nepalesische Statistik verzeichnet jährlich knapp eine halbe Million Auslandstouristen und beziffert den Anteil an Höhentouristen (Trekking, Bergbesteigungen) mit rund 70 Prozent, das wären immerhin 350.000 Personen pro Jahr.

Zwischen großen und extremen Höhen liegen ebenso Welten wie zwischen dem Höhentrekking und dem Höhenbergsteigen. Während beim Höhentrekking, das sich überwiegend in Höhen unter 5.500 Meter abspielt, die statistische Mortalität nur 0,01 Prozent beträgt, liegt die Erkrankungs- beziehungsweise Verletzungsrate beim Höhenbergsteigen bei rund 25 Prozent und die Mortalität ist mit etwa drei 300 Mal höher als beim Trekking. An den höchsten Achttausendern starb in manchen Jahren rund ein Viertel der Gipfelbezwinger. Alle fünf Frauen, die bisher auf dem Gipfel des K2 standen, sind inzwischen nicht mehr am Leben. (If I want the ultimate thrill I´ve got to be willing to pay the ultimate price.)

Die olympische Maxime „citius, altius, fortius“ nimmt jedenfalls keine Rücksicht darauf, dass ab etwa 7.000 Meter Meereshöhe die „Todeszone“ (Wyss-Dunant, 1952) beginnt. Dort oben bewegt man sich im ungemein schmalen und völlig unkalkulierbaren Grenzbereich zwischen Erfolg und Tod. Extreme hypobare Hypoxie stellt immer – auch unter optimalen äußeren Bedingungen – eine permanente Bedrohung dar, vor allem der zerebralen Funktionen. Im Zusammenhang mit Hypothermie, Hypoglykämie und Hypohydrierung stellt hypobare Hypoxie in extremen Höhen nur zu oft ein tödliches Kleeblatt dar, eine „Hydra mit vier Köpfen“.

Dennoch ist der Trend ungebrochen: Der Höhentourismus im Königreich Himalaya Nepal, dem Mekka des Höhenbergsteigens, hat allein von 1982 (rund 24.000) bis 1994 (rund 77.000) um 330 Prozent und von 1994 bis 2009 (rund 350.000) sogar um 450 Prozent zugenommen – und dies trotz jahrelanger bürgerkriegsähnlicher Unruhen in diesem Land. Das bedeutet zwischen 1982 und 2009 eine Zunahme um das 14-Fache.

Massenansturm

1998 wälzten sich 20.014 Trekkingtouristen durch die Everest-Region, zwei Jahre später (2000) waren es bereits 25.291 – das bedeutet eine Steigerung von 26 Prozent. Auf dem beliebten – weil weniger hohen Annapurna-Trek – der wohl am häufigsten begangenen Höhentrekkingroute der Welt, sind etwa dreimal so viele Touristen unterwegs. Mehr als 30.000 Menschen berennen alljährlich den 5.895 Meter hohen Kilimandscharo, wovon allerdings nur 66 Prozent den Gipfel erreichen.

Auf den Mount Everest existieren zur Zeit 15 verschiedene Aufstiegsrouten. Er wurde bisher bereits mehr als 3.000 Mal bestiegen. Rund 170 Personen erreichten den Gipfel ohne Sauerstoffflasche. Insgesamt haben 195 Menschen (Stand: 2009) den Drang, den Mount Everest zu besteigen, mit dem Leben bezahlt. Der Berg geriet zumindest zweimal weltweit in die Schlagzeilen: 1953 durch die Erstbesteigung und 1996 durch 13 Tote im Gipfelorkan innerhalb weniger Stunden. In den 48 Jahren zwischen 1921 und 1969 gab es insgesamt nur 29 Expeditionen auf den Everest, in den 1970er Jahren waren es bereits 27 und in den 1980er Jahren 144. Allein im Jahr 1993 – 40 Jahre nach der Erstbesteigung – haben sich 15 Expeditionen mit insgesamt 294 Teilnehmern zum Everestgipfel aufgemacht. Am 23. Mai 2001 erreichten in einem Massenansturm 88 Personen den Gipfel. Heute werden auf beiden Seiten des Berges pro Saison bis zu 300 Expeditionsgruppen mit insgesamt rund 6.000 Teilnehmern gezählt. Bis 1999 sammelten sich übrigens an die 1.115 Tonnen Expeditionsmüll an diesem Berg an.

Fassungslos nimmt man zur Kenntnis: 1998 stand erstmals auch ein Beinamputierter am Gipfel, und der von Tuborg vermarktete Kaji Sherpa lief vom Basislager aus in 18 Stunden auf den Gipfel und zurück. Im Jahr darauf – 46 Jahre nach der Erstbesteigung – stieg der Sherpa Babu Chiri in 17 Stunden von Süden zum Gipfel und harrte dort anschließend ohne Sauerstoff fast 24 Stunden aus. Im Mai 2005 verbesserte der Österreicher Christian Stangl diesen Aufstiegsrekord auf 16 Stunden und 42 Minuten – ohne Sauerstoff vom Basislager zum Gipfel.

Berg der Extreme

Im Mai 2001 bestieg der erste Blinde, der Amerikaner Erik Weihenmayer, den Everest. Ein Franzose flog 1988 mit dem Gleitschirm herunter. Skiabfahrten nach Norden und nach Süden folgten ebenso wie im Mai 2001 eine Abfahrt vom Gipfel mit dem Snowboard. Da hat es oft den Anschein, dass hemmungslose Gier nach Publicity, käuflichem Thrill und Abenteuer aus zweiter Hand die Szene dominieren – und dass die höchsten Berge, jahrtausendelang als Sitz der Götter respektiert, rücksichtslos zu Turngeräten der Eitelkeiten und des Kommerz degradiert werden. Mittlerweile werden alle Achttausender im Reisebüro-Katalog angeboten.

Auch andere Achttausender bleiben vom Abenteuer-Tourismus nicht verschont: Um den Gipfel des Cho Oyu beispielsweise stritten sich in der Herbstsaison 2010 ganze 36 Teams mit fast 700 Teilnehmern. Zur gleichen Zeit waren auf der 6.865 Meter hohen Ama Dablan nicht weniger als 27 Besteigungsteams tätig. Bis 2006 erreichten 8.184 Personen einen Achttausender-Gipfel. Dabei starben insgesamt 668 Personen (8,2 Prozent), etwa 200 davon an einem Höhenödem.

Dennoch sucht die große Mehrheit der Höhentouristen – davon bin ich überzeugt – nicht dieses globale Spektakel, sondern noch immer das unbeschreibliche Naturerlebnis der so faszinierenden Hochgebirge dieser Erde. Besonders Höhenmediziner gehören zu jenen, die mit besonderem Respekt den hohen Bergen begegnen, ja mit zunehmender Demut, je mehr unser Wissen wächst. Wir versuchen, die Grenzen des Lebbaren in dieser Welt von Sauerstoffmangel, Stürmen, Kälte und Unwirtlichkeit aufzuspüren, um die Gesetzmäßigkeiten herauszufinden, nach denen die Natur uns in diese seltsamen Sphären einzudringen erlaubt, die evolutionär nicht für uns vorgesehen sind…

*) Univ. Prof. Dr. Franz Berghold,
Arzt für Allgemeinmedizin, Höhenmediziner,
Wilhelm-Fazokas-Straße 21, 5710 Kaprun; Tel.: 06547/8227; E-Mail: bergi@sbg.at

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 13-14 / 15.07.2011