Chronischer Rückenschmerz: Die Erfahrung des anderen

10.09.2011 | Medizin



Bis zu 60 Prozent aller Patienten einer allgemeinen Schmerzambulanz kommen wegen Rückenschmerzen. Für eine komplette Beurteilung benötigt jeder die Erfahrung des anderen, wobei die Expertise des Experten darin liegt, richtig einzuschätzen.

Von Irene Mlekusch

In Österreich leiden in etwa 1,5 Millionen Menschen an chronischen Schmerzen, die überwiegend den muskoloskelettalen und den Gelenksapparat betreffen. Univ. Prof. Wilfried Ilias von der Abteilung für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie der Barmherzigen Brüder in Wien spricht von einer zunehmenden Prävalenz der Frühpensionen durch Rückenschmerzen und Depressionen bei Arbeitern und Angestellten. „Rückenschmerzen und Depressionen hängen zusammen und potenzieren sich gegenseitig“, erklärt Ilias. Epidemiologischen Schätzungen zu Folge lassen sich bei circa 30 Prozent der Patienten mit chronischen Rückenschmerzen psychosoziale Risikofaktoren erheben. Vor allem Menschen, die an Depressionen leiden, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Chronifizierung von Schmerzen. Auch eine schlechte Schmerzverarbeitung, deren Ursachen bis in die Kindheit zurück reichen oder übermäßiges Schon- und Vermeidungsverhalten können dazu führen, dass der Schmerz ein ständiger Begleiter wird.

„50 bis 60 Prozent der Patienten, die die allgemeine Schmerzambulanz aufsuchen, kommen wegen Rückenschmerzen“, schildert Ilias. Das Auftreten von starken Schmerzen nimmt mit dem Alter zu, wobei mit zunehmendem Alter eher die Frauen betroffen sind. Degenerative Erscheinungen treten hier bei Frauen zusätzlich zu Osteoporose und Übergewicht in den Vordergrund. Univ. Prof. Andreas Leithner, Vorstand der Universitätsklinik für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie in Graz zählt als mögliche Ursachen schwerwiegende Erkrankungen wie Neoplasien oder lokale Infektionen auf, die mit 0,7 beziehungsweise 0,01 Prozent eher selten sind. Häufiger findet man osteoporotisch bedingte Kompressionsfrakturen (vier Prozent), Spondylolisthesen (drei Prozent) oder degenerative Wirbelsäulen-Veränderungen wie Bandscheibenvorfall, Spinalkanalstenose, Spondylarthrose und ähnliches mit 15 bis 45 Prozent. „Diese Ursachen führen meist zuerst zu akuten Kreuzschmerzen, die bis zu sechs Wochen dauern und dann über eine subakute Phase zu chronischen oder rezidivierenden Rückenschmerzen, die länger als zwölf Wochen anhalten, transformieren können“, so der Experte.

Spezifische Ursachen: nur in 45 Prozent der Fälle

Spezifische Ursachen für das Symptom Kreuzschmerz können somit laut verschiedener Studien in maximal 15 bis 45 Prozent der Fälle gefunden werden. Ilias erklärt den chronischen Schmerz der übrigen Patienten durch die Ausprägung eines Schmerzgedächtnisses. Mit der Zeit verliert nämlich der länger andauernde Schmerz seine ursprüngliche Warn- und Schutzfunktion, wird durch eine Umstrukturierung im Gehirn vom auslösenden Ereignis abgekoppelt und kann somit auch nach Ausheilung der Ursache bestehen bleiben. „Chronische Schmerzpatienten isolieren sich oft sozial“, erklärterklärt Ilias und
schildert die daraus resultierenden Folgen wie erhöhte Selbstmordrate
und Arbeitslosigkeit. Chronische Schmerzen haben einen Einfluss auf die körperliche Tätigkeit, das Sexualleben und die Schlafqualität. Schonen sich die Betroffenen total, ist ein weiterer Abbau der Muskelmasse durch den Bewegungsmangel vorprogrammiert, der Rücken wird immer schwächer und der Schmerz nimmt kontinuierlich zu. Die Mobilisation des Patienten sollte daher schon – soweit vertretbar – in der akuten Phase an erster Stelle der therapeutischen Maßnahmen stehen.

Für Ilias steht die Diagnosestellung im Vordergrund. „Oft haben die Patienten viele Informationen aus dem Internet und kommen mit selbsterstellten Diagnosen“, berichtet er aus der Praxis. Potentielle körperliche Ursachen sollen so rasch wie möglich aufgedeckt, körperliche Beschwerden und die daraus folgenden Funktionsstörungen objektiviert und Faktoren identifiziert werden, die für eine Chronifizierung der Schmerzen verantwortlich sind. Ilias dazu: „Der Schmerz muss unter Berücksichtigung des allgemeinen Lebensstils bewertet und die Symptome in jedem Fall genau hinterfragt werden.“ Schmerzqualität, Dauer und Lokalisation müssen ebenso erhoben werden wie eventuell vorhandene Schonhaltungen, Kraftunterschiede zwischen paarigen Körperteilen und muskuläre Verspannungen. Ein klinischer Befund mit ergänzenden bildgebenden Verfahren festigt die Diagnose und die weitere Behandlung. Sind ernstzunehmende Wirbelsäulen-Pathologien erst einmal ausgeschlossen, kann jede weitere aufwändige somatische Diagnostik kontraproduktiv sein und eine Chronifizierung begünstigen.

„Die Komplexität der adäquaten Behandlung chronischer Rückenschmerzen lässt sich an der einfachen Tatsache ablesen, dass die Deutsche Nationale Versorgungsleitlinie zum Thema Kreuzschmerz einen Umfang von 197 Seiten hat“, merkt Leithner an. Der Patient mit chronischen Rückenschmerzen bedarf einer interdisziplinären Behandlung sowie einer systematischen Verordnung von Schmerzmitteln nach dem Stufenschema der WHO. Ilias merkt an, dass sich eine komplette Beurteilung des Patienten für einen Arzt allein oft gar nicht ausgeht: „Jeder Arzt braucht die Erfahrung des anderen, wobei die Expertise des Experten darin liegt, richtig zuzuweisen und die Überlegenheit des anderen Fachs entsprechend einschätzen zu können.“ Erfolg versprechend sind komplexe Behandlungsprogramme, die neben ärztlichen auch physio-, ergo- und psychotherapeutische sowie sportmedizinische Anteile vereinen. Wichtig ist vor allem die aktive Mitarbeit der Patienten, deren Selbstbeobachtung und Rückmeldung an den Arzt beziehungsweise das Behandlungsteam.

Analgetika und Antidepressiva

Die orale Schmerztherapie reicht von nicht-Opioiden (Stufe I) bis hin zu invasiven Verfahren wie der Implantation einer Schmerzpumpe (Stufe IV). Zusätzlich rät Ilias einigen Patienten, Antidepressiva einzunehmen, da es durch den chronischen Schmerzzustand zu einer Erschöpfung der Neurotransmitter kommt und die Regulative nach mehr als drei Monaten mit Schmerzen verbraucht sind. In jeder pharmakologischen Behandlungsstufe können ergänzend alternative Verfahren wie Akupunktur, Biofeedback oder transkutane elektrische Nervenstimulation den Patienten bei der Bewältigung seiner Schmerzen unterstützen. Physiotherapie mit krankengymnastischen Übungen, Ergotherapie und unter Umständen manuelle Medizin sollen mithelfen, den Betroffenen so rasch wie möglich wieder mobil zu machen, so dass die normale körperliche Aktivität beibehalten oder wieder aufgebaut werden kann. Der starke Einfluss von psychosozialen Faktoren bedarf einer psychologischen oder psychotherapeutischen Betreuung, wobei sich vor allem die Verhaltenstherapie, Hypnose und andere Entspannungstechniken eignen, um den täglichen Umgang mit den chronischen Schmerzen zu verbessern. Leithner ergänzt: „Operative Maßnahmen stehen hier meist eher im Hintergrund und sind oft erst nach dem Ausschöpfen von konservativen Therapiemaßnahmen und/oder beim Vorliegen eines eindeutig pathologischen Korrelates indiziert.“

Alarmierende Wirbelsäulensymptomatik – red flags

  • Fieber
  • Blasen-/Mastdarmentleerungsstörung
  • Neurologische Ausfallserscheinung
  • Maligne Tumorerkrankung
  • Manifeste Osteoporose
  • Adäquates Trauma
  • HIV, Immundefizit, Drogenabusus
  • Gewichtsverlust
  • Deformität
  • Alter unter 20 und über 65 Jahre
  • Meningismus
  • Thoraxschmerz
  • Lagerungs- und bewegungsunabhängiger Dauerschmerz

Erstellt von: OA. Dr. Max Zacherl, Leiter Sektion Wirbelsäule an der Universitätsklinik für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie in Graz

Behandlungsalgorithmus des unspezifischen Rückenschmerzes

Keine alarmierende Symptomatik (red flags)

Akut (< 6 Wochen)

subakut bzw. wiederkehrend

Chronisch (> 12 Wochen)

Diagnostik

Anamnese, klinische Untersuchung

Anamnese, klinische Untersuchung, Röntgen

Anamnese, klinische Untersuchung, Röntgen und Schichtbildverfahren (MRT, CT)

Therapie medikamentös

Paracetamol

NSAR, Muskelrelaxantien, niedrigpotente Opioide

NSAR, Opioide, schmerz-distanzierende Psychopharmaka

Nicht-medikamentöse Therapie

Aufforderung zur körperlichen Aktivität

Physiotherapie (ambulant), Rückenschule

Kombinierte Rückenschule (bio-psychosoziales Behandlungskonzept), Physiotherapie (stationär)

Prävention

Körperliche Aktivität (Ausgleichssport)

Physiotherapeutische Folgetherapie, betreuter Ausgleichssport, Arbeitsplatzmodifikation

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Zusatztherapie (optional)

Manualtherapie, Akupunktur

Psychotherapie

Psychotherapie

Erstellt von: OA. Dr. Max Zacherl, Leiter Sektion Wirbelsäule an der Universitätsklinik für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie in Graz

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 17 / 10.09.2011