Chronische Niereninsuffizienz: Progression gezielt verzögern

25.05.2011 | Medizin



Bei einer chronischen Niereninsuffizienz wird die Progression in erster Linie durch die konsequente Behandlung der Risikofaktoren erreicht; der Schwerpunkt liegt dabei auf der Behandlung der Hypertonie. In Österreich leidet vermutlich jeder zehnte Erwachsene an einer Niereninsuffizienz.

Von Irene Mlekusch

Die Inzidenz und Prävalenz von chronischen Nierenerkrankungen hat in den letzten Jahrzehnten weltweit massiv zugenommen. Dabei spielen die chronischen Glomerulonephritiden, medikamentöse Schädigungen und genetische Defekte im Hinblick auf die Überalterung der Bevölkerung und die Veränderung der Lebensgewohnheiten eine untergeordnete Rolle. Univ. Prof. Alexander Rosenkranz, Leiter der klinischen Abteilung für Nephrologie und Hämodialyse an der Universitätsklinik für Innere Medizin in Graz schätzt, dass derzeit jeder zehnte Erwachsene an einer Niereninsuffizienz erkrankt ist, wobei die tatsächliche Anzahl der Betroffenen durch die Messung des Serumkreatinins allein oft unterschätzt wird. Die Abnahme der Nierenfunktion ist dabei eng mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse verknüpft.

Die Abnahme der Nierenfunktion verläuft oft schleichend. „Anfangs sind die Symptome einer chronischen Niereninsuffizienz (CNI) oft unspezifisch. Die Hypertension ab Stadium II sowie die Anämie ab Stadium III können erste Hinweise sein“, erklärt Univ. Prof. Renate Klauser-Braun, Vorstand der 3. Medizinischen Abteilung des SMZ-Ost Donauspital in Wien, da die Nieren mit ihren exokrinen und endokrinen Funktionen einen Einfluss auf die Herztätigkeit, pH-Wert-Regulation, Knochenhärte, Blutdruck und Blutbildung haben. Im Frühstadium können Nykturie, Polyurie, Hypertonie und Leistungsschwäche auftreten. Schreitet die Insuffizienz fort, kommen Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen und zunehmende Infektneigung, später auch neuromuskuläre Symptome hinzu. Typisch für das Endstadium der CNI sind der Foetor uraemicus, Anorexie, ein urämisches Hautkolorit und Juckreiz.

„Die Progressionsverzögerung der chronischen Niereninsuffizienz hat größte Bedeutung“, sagt Rosenkranz, „da die Erkennung der Erkrankung den ersten Behandlungsschritt darstellt.“ Einfache Screening-Untersuchungen wie ein Harnstreifen oder eine Blutabnahme zur Bestimmung des Serumkreatinins können bereits früh Hinweise liefern, ebenso eine Sonographie der Nieren. Dabei sollte jedes Vorkommen von Blut und/oder Eiweiß im Harn weiter abgeklärt werden. Rosenkranz gibt aber zu bedenken, dass das Serumkreatinin erst dann ansteigt, wenn die Nierenfunktion um mehr als 50 Prozent eingeschränkt ist. „Der Bestimmung der Nierenfunktion mittels entsprechender Formeln kommt mit zunehmendem Alter des Patienten eine große Bedeutung zu“, berichtet Rosenkranz. Die MDRD-2-Formel (Modification of diet in renal disease equation), die im Bereich einer glomerulären Filtrationsrate von 20 bis 60 ml/min sinnvoll errechnet werden kann, und die CKD-EPI-Formel (chronic kidney disease epidemiology group equation) sind mittels Alter, Geschlecht und Serumkreatinin leicht zu erheben. Da Personen mit einer niedrigeren Muskelmasse wie zum Beispiel Frauen oder ältere Menschen auch ein relativ niedriges Serumkreatinin haben können, sollte nicht automatisch von normalen Kreatininwerten auf eine normale Nierenfunktion geschlossen werden.

Arterielle Hypertonie effizient behandeln

Eine der effektivsten Interventionen im Management der chronischen Niereninsuffizienz ist die Behandlung der arteriellen Hypertonie, da diese mit einer raschen Progression assoziiert ist. Klauser-Braun empfiehlt, die Hypertonie beim chronisch Nieren-insuffizienten Patienten wenn möglich mit Substanzen der RAAS-Blockade zu behandeln, da diese Ausschlag gebend für den renalen Endpunkt ist. „ACE-Inhibitoren wirken, indem sie den glomerulären Kapillardruck senken, die Aldosteron-induzierte Natriumrückresorption reduzieren, die glomeruläre Barrierefunktion verbessern, eine antiproliferative Wirkung auf das Interstitium und das Gewebe haben und die Thrombozytenaggregation hemmen“, ergänzt Klauser-Braun. Rosenkranz wiederum betont, dass erst Blutdruckwerte unter 130/80mm Hg die Progredienz des Rückganges der glomerulären Filtrationsrate auf 1-2 ml/min limitieren. Patienten mit zusätzlicher Proteinurie von mehr als 1 g/24h sollten gezielt auf weniger als 125/75mm Hg eingestellt werden. „Bei der Behandlung der Hypertonie von Nierenpatienten wird meist erst mit dem Einsatz von drei bis vier Medikamenten das Auslangen gefunden“, gibt Rosenkranz zu. Klauser-Braun weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Interaktion zwischen Hyperurikämie und Hypertonie vor allem bei Frauen einen gemeinsamen Risikofaktor der frühen chronischen Niereninsuffizienz darstellt. Mittlerweile geht man aber davon aus, dass die Hypertonie nicht nur eine Folge der Niereninsuffizienz, sondern je nach Grunderkrankung an deren Entstehung auch ursächlich beteiligt ist.

Die Hyperlipidämie ist als weiterer kardiovaskulärer Risikofaktor laut Klauser-Braun bei nephrologischen Patienten noch zu wenig untersucht. Der Einfluss der Mangelernährung drückt sich bei chronisch Niereninsuffizienten oft dadurch aus, dass die Triglyzeride zwar erhöht sind, das Gesamtcholesterin aber im Stadium der Urämie deutlich reduziert ist. Eine erhöhte Mortalität ist die Folge. Beim nephrotischen Syndrom steigen die Triglyzeride massiv an. „Vorwiegend werden auch in der Therapie der Lipidstoffwechselstörung von nephrologischen Patienten Statine eingesetzt, da sich die Fibrate nicht so bewährt haben“, merkt Klauser-Braun an und bedauert, dass es derzeit noch keine optimale Lipidtherapie bei chronischer Niereninsuffizienz gibt. Rosenkranz verweist auf die rezenten Daten der SHARP-Studie, die bei der Einnahme von Statinen eine Risikoreduktion von 17 Prozent für schwere kardiovaskuläre Ereignisse von Prä-Dialysepatienten zeigen konnten.

Die Behandlung der renalen metabolen Azidose mittels Natriumbicarbonat wirkt Nieren-schützend und sollte ab dem Stadium III verabreicht werden. „Die Diuretika-Behandlung sollte in Abhängigkeit von der Kreatininclearence erfolgen. Bei einem Wert unter 30ml/min dürfen nur Schleifendiuretika zum Einsatz kommen“, so Klauser-Braun. Sie sieht an der Klinik auch immer wieder, dass die oft geforderte Eiweißreduktion zur Behandlung der Hyperazotämie beim Patienten zu einer deutlichen Einschränkung der Lebensqualität führt. Eine aufwendige Diätberatung kann aber zu einer Reduktion der Urämietoxine und der Urämiesymptomatik führen und die Progression des Nierenversagens verzögern. Ein realistischer Zielwert liegt bei ein Gramm pro Kilogramm Körpergewicht. Die Hyperkaliämie ist vor allem bei Patienten mit zusätzlicher koronarer Herzkrankheit iatrogen verursacht und lässt sich mit diätetischen Maßnahmen allein oft nicht beherrschen. „Vor allem Betablocker, Medikamente mit RAAS-Blockade wie etwa ACE-Hemmer, Angiotensin-II-Blocker, Reninantagonisten oder NSAR führen immer wieder zu erhöhten Kaliumwerten“, erklärt Klauser-Braun. Steigt das Kalium bei Anurie um mehr als sieben mmol/l, liegt eine absolute Dialyseindikation vor.

Kalzium und Phosphat: streng kontrollieren

Der Kalzium-Phosphathaushalt bedarf aufgrund seines Einflusses auf den Knochenstoffwechsel und den sekundären Hyperparathyreoidismus strenger Kontrollen. Klauser-Braun dazu: „Die Hyperphosphatämie und die Hypokalziämie gehen ab dem Stadium III mit einem Vitamin D-Mangel und einem Anstieg des Parathormons einher, was in weiterer Folge zur renalen Osteodystrophie führt. Ab dem Stadium III sind daher regelmäßige Kontrollen von Phosphor, Kalizum und Parathormon notwendig.“ Als therapeutische Möglichkeiten stehen zur Phosphatsenkung eine Diät zur Verfügung, aber auch Ca-hältige Ph-Binder wie Calciumazetat, Calciumcitrat, Calciumketogluturat oder Aluminium-hältige Phosphat-Binder, Polymere und Schwermetalle. „Ziel ist die Normalisierung des Phosphates auf weniger als 1,48mmol/l, welches oft im Stadium IV und V signifikant erhöht ist“, erklärt Rosenkranz. Klauser-Braun sieht mit Paracalcitol eine neue Substanz als Alternative zur Parathormonsenkung. „Dieses Vitamin D-Analogon ist speziell modifiziert, um zielgerichtet am VDR-Rezeptor der Parathyreoidea zu wirken“, erklärt sie. „Dadurch wird im Vergleich zu anderen Präparaten das Calcium aus dem Darm und Knochen nicht mobilisiert.“ Weitere Substanzen wie Cinacalcet sind erst ab der Dialyse zugelassen. Beide Experten sprechen sich für regelmäßige Kontrollen von Calcium, Phosphat, Parathormon sowie von Vitamin D und seinen Vorstufen aus. Rosenkranz empfiehlt nach Möglichkeit bei 25OH-Vitamin D3 Werten unter 30ng/ml die Substitution mit Oleovit VitD3-Tropfen für zumindest sechs Wochen. Rosenkranz: „Beobachtungsdaten haben gezeigt, dass die Kalzifizierung bei Patienten mit CNI im Vergleich zu anderen Patienten erhöht ist.“

Die Behandlung der renalen Anämie hat sich in den vergangenen Jahren aufgrund diverser Untersuchungen in der Prädialyse dahingehend verändert, dass erst bei einem Hämoglobinabfall von unter zehn g/dl mit einer Therapie begonnen wird. „Patienten mit kardiovaskulärem Risiko und höherem Hämoglobin schneiden insgesamt schlechter ab, da deren Insult-Rate höher ist und potentiell eine erhöhte Malignomaktivität vorliegt“, sagt Klauser-Braun. Ein guter Hämoglobinwert für die Dialyse und Prädialyse liegt zwischen 10 und 12 g/dl und sollte nicht überschritten werden. „Bei Diabetikern, insbesondere mit Insultvorgeschichte, soll mit einer ESA-Therapie bei einem Hämoglobinwert von unter 10 g/dl begonnen werden. Der Zielbereich liegt hier zwischen 10 und 11 g/dl“, erklärt Rosenkranz. Klauser-Braun sieht die klinische Bedeutung der Anämietherapie vor allem in der Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit, der Abnahme der anämiebedingten Symptome, der Besserung der subjektiven Empfindlichkeit und der Einsparung von homologen Bluttransfusionen. „Vor der Gabe eines Erythropoietins sollte der Eisenspiegel überprüft werden“, erklärt Rosenkranz. Die Begleittherapie mit Eisenpräparaten bei nachgewiesenem Eisenmangel kann wesentlich zur Dosiseinsparung der Erythropoietine beitragen. Ziel der Eisentherapie bei einem Patienten mit einer chronischen Niereninsuffizienz ist ein Serumferritin von über 100 ng/ml und eine Transferrinsättigung von mehr als 20 Prozent.

„Auch die Raucherentwöhnung stellt einen wesentlichen Progressionsfaktor dar“, weiß Klauser-Braun. Die Effekte von Spontanverlauf, Blutdruckkontrolle, Eiweißrestriktion, Euglykämie und anderer Risikofaktoren sind additiv zu sehen und erstrecken sich über Monate und Jahre. Rosenkranz betont die Wichtigkeit, den Patienten so früh wie möglich zu erreichen und ihn zur Bewegung und ausgewogenen Ernährung zu animieren. Beide Experten wünschen sich, dass ein Patient mit CNI ab dem Stadium III zumindest ein Mal pro Jahr beim Nephrologen vorstellig wird. Studien belegen, dass das Überleben der Patienten durch eine möglichst frühe Zuweisung an den Nephorologen verbessert werden kann.

Risikofaktoren bei chronischer Niereninsuffizienz

Traditionelle Risikofaktoren

Nicht-traditionelle Risikofaktoren

Alter

Albuminurie

Mann

Homocystein

Hypertension

Lipoprotein (a) und Apolipoprotein (a)

Erhöhtes LDL-Cholesterin

Renale Anämie

Vermindertes HDL-Cholesterin

Abnormer Calcium-/Phosphat Metabolismus

Diabetes

Volumsüberladung

Raucher

Elektrolytstörung

Physikalische Inaktivität

Oxidativer Stress

Menopause

Inflammation (CRP)

Kardiovaskuläre Familienanamnese

Malnutrition

Linksventrikelhypertrophie

Schlafstörungen

Quelle: Univ. Prof. Alexander Rosenkranz

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 10 / 25.05.2011