ADHS: Dabei bleiben ist das Problem

25.04.2011 | Medizin

Kinder mit ADHS sind sehr neugierig, vielseitig interessiert, oft wahre Experten und nie nachtragend. Jedoch haben sie gravierende Probleme, sich länger auf eine bestimmte Sache zu konzentrieren. Meist sind auch Exekutivfunktionen beeinträchtigt, was sich in Problemen des Arbeitsgedächtnisses oder der Planungsfähigkeit äußern kann.
Von Corina Petschacher

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung – kurz ADHS – zählt zu den am besten untersuchten Diagnosen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Es handelt sich dabei um eine Störung, die bereits im Kindesalter beginnt, sich durch Probleme in den Bereichen der Aufmerksamkeit, der Impulsivität und der Konzentration auszeichnet und häufig auch von Hyperaktivität begleitet wird. Eine Reihe von komorbiden Problemen wie Teilleistungsschwächen, sensorische Integrationsprobleme und die Beeinträchtigung der exekutiven Funktionen sind oft zusätzlich belastend. Bei einem Teil der Kinder treten auch Verhaltensauffälligkeiten wie oppositionelles Verhalten und depressive Verstimmung auf. Das ADHS ist eine vorwiegend genetisch bedingte Störung, die bei drei bis zehn Prozent der Menschen in einem klinisch bedeutsamen Ausmaß vorhanden ist. Buben sind dabei häufiger betroffen als Mädchen. Die Probleme bessern sich meist in der Pubertät, etwa die Hälfte der klinisch auffälligen Kinder leidet aber auch im Erwachsenenalter unter psychischen und sozialen Problemen.

Die Aufmerksamkeitsdefizitstörung ist ein Störungsbild, bei dem biologische, psychische und soziale Faktoren zusammenwirken. Genetische Ursachen werden aufgrund von Zwillingsstudien und aufgrund der Beobachtung, dass fast immer ein primärer Verwandter ADHS-Symptome zeigt, vermutet. Neuroanatomisch findet sich bei ADHS-Patienten ein geringeres präfrontales Volumen, neurophysiologisch wird eine Störung der Aufmerksamkeitsregulation durch dopaminerge beziehungsweise noradrenerge Kontrollsysteme vermutet. Störungen in der Expression von Rücktransporterproteinen können eine raschere Transmitterclearance aus dem synaptischen Spalt bedingen; alternativ oder zusätzlich werden Dopaminrezeptorveränderungen diskutiert. An den Rücktransporterproteinen setzt auch die pharmakologische Therapie des ADHS an.

Im menschlichen Gehirn gibt es bestimmte Kontrollsysteme, die einerseits den Gedankenduktus beeinflussen und andererseits die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Sache, die gerade aktuell ist, konzentrieren. Diese Kontrollsysteme arbeiten mit drei verschiedenen Neurotransmittern, Serotonin, Dopamin und Noradrenalin. Serotonin dient hierbei in erster Linie der Stimmungsregulation, noradrenerge und dopaminerge Kontrollsysteme sind für die Aufmerksamkeit zuständig, Noradrenalin unter anderem auch für die Kontrolle der Motorik. Ausgehend vom Aktivitätszentrum im Stammhirn werden interne Reize im Frontalhirn kontrolliert. Dabei wirken vor allem dopaminerge Kontrollsysteme unseres Gehirns dämpfend und somit konzentrierend. Dadurch können äußere Reize in ihrer Wichtigkeit beurteilt werden und man kann sich auf ein momentan aktuelles Geschehnis konzentrieren und andere Dinge ausblenden. Dies ist bei einem ADHS-Kind nur sehr schwer bis gar nicht möglich. Die Kontrolle für externe Reize unterliegt einem Reifungsprozess: Für Dreijährige ist es normal, dass sie sich nicht sehr lange auf etwas konzentrieren beziehungsweise äußere Einflüsse ausblenden können; für ein Schulkind bedeuten Konzentrationsprobleme aber oft große Nachteile. Unbehandelte ADHS-Kinder werden deshalb oft um eine Standardabweichung schlechter beurteilt, haben ein höheres Risiko für Klassenwiederholungen und Schulwechsel.

„Die Diagnose ADHS ist eine klinische. Man diagnostiziert es rein phänomenologisch nach dem, was man sieht“, erklärt Univ. Prof. Peter Scheer, Leiter der Psychosomatik und Psychotherapie an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde Graz. Dafür werden Diagnosensymptome, mit denen Symptomenkomplexe festgestellt werden, verwendet. Diese Symptomenkomplexe teilen sich in drei Subgruppen auf, die Fragen der Aufmerksamkeit, der Impulsivität und der Konzentration betreffen. Um herauszufinden, ob in einem dieser Bereiche Störungen auftreten, werden einerseits Fragebögen verwendet, mit Hilfe derer man das Umfeld der Kinder – meist Eltern und Lehrer – zu den kindlichen Verhaltensweisen befragt und andererseits sogenannte Beobachtungsbögen, mit denen der Experte seine Beobachtungen des Kindes dokumentiert. „Durch die Kombination dieser beiden soll vermieden werden, dass Kinder, die an ADHS leiden, nicht als solche erkannt werden, da diese beim Besuch in der Ordination oder im Krankenhaus zunächst oft unauffällig wirken“.

Komorbiditäten erfassen

Die ausführliche psychologische und eventuell auch ergotherapeutische Diagnostik dient der Erfassung von häufig komorbiden sensorischen Integrationsproblemen und Teilleistungsstörungen wie Raumlageorientierungsproblemen, Problemen im Kurzzeitgedächtnis oder Lese-Rechtschreibstörungen. „Diese müssen erkannt und entsprechend behandelt werden“, betont Univ. Prof. Christian Popow von der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie am AKH Wien.

Zu den ADHS-Symptomen gehört einerseits, dass die Betroffenen nur über eine sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne für Dinge, die ihnen momentan nicht so wichtig sind, verfügen. Das zeigt sich besonders in der Schule und beim Hausübung machen. Die Kinder springen von einer Sache zur anderen, können sich mit nichts länger beschäftigen und habe große Schwierigkeiten, sich nur mit einer Sache zu befassen. Dabei bleiben ist das große Problem. Meist treten auch Schwierigkeiten auf, sich selbst und seine Arbeit zu organisieren, die kleinste Kleinigkeit lenkt ab. Bei manchen Kindern kommt Hyperaktivität dazu, sie sitzen unruhig auf dem Stuhl, wackeln, stehen auf, haben auch in entspannten Situationen Schwierigkeiten, sich ruhig mit etwas zu beschäftigen. Dazu kommt oft ein Gefühl der inneren Unruhe, des Angetriebenseins. Weiters: nicht warten können, bis man an der Reihe ist; von ganz anderen Dingen reden als die, die gerade aktuell sind. Meist sind auch die sogenannten Exekutivfunktionen in irgendeiner Form beeinträchtigt, was sich zum Beispiel in Problemen des Arbeitsgedächtnisses oder der Planungsfähigkeit äußern kann, beschreibt Popow die auftretenden Symptome. Es gibt aber auch Positives: ADHS-Kinder sind sehr neugierig, vielseitig interessiert, oft wahre Experten und nie nachtragend.

Voraussetzung für jede Behandlung von ADHS ist eine fundierte Diagnose durch einen Kinder- und Jugendfacharzt, Kinder- und Jugendpsychiater und/oder Psychologen. Dabei müssen auch Differentialdiagnosen und eventuell vorhandene Komorbiditäten untersucht werden. Dazu gehören beispielsweise die expansive Sozialverhaltensstörung, Intelligenzstörungen, hirnorganische Probleme, Tics und Autismus. Es ist aber auch abzuklären, ob es sich bei den Betroffenen um vernachlässigte Kinder handelt oder ob – vor allem bei Jugendlichen – Substanzmissbrauch vorliegt, der unter Umständen zu ähnlichen Symptomen führen kann.

ADHS und Medikamente

In der medikamentösen Therapie kommen vor allem Stimulantien, besonders Methylphenidat (Ritalin®, Concerta®, Medikinet®) und der selektive Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer Atomoxetin (Strattera®) zum Einsatz.

Die stimulierenden Medikamente (Amphetaminabkömmlinge), die beim ADHS eingesetzt werden, vermehren Dopamin im synaptischen Spalt. Methylphenidat wird in einer Dosierung von etwa 1 mg/kg Körpergewicht eingesetzt, und die Patienten werden unter kontrollierten Bedingungen eingestellt. Die Medikamente werden meist gut vertragen. Die Hauptnebenwirkung stellt eine deutliche Appetitreduktion dar, wodurch es zu einer vorübergehenden Wachstumsverzögerung kommen kann. Die lange Zeit befürchtete und diskutierte Lungenhypertonie bei Amphetamintherapie konnte als Nebenwirkung ausgeschlossen werden, da die therapeutische Dosierung dafür zu gering ist. Neuerdings wird in der medikamentösen Therapie auch Atomoxetin (Strattera®), ein selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer, verwendet. Dieser blockiert die Rücktransporterproteine der betroffenen Neurotransmitter teilweise und stellt so die Wirkung der Kontrollsysteme wieder her. Das Nebenwirkungsspektrum von Atomoxetin ist dem von Methylphenidat ähnlich. Unterschiede bestehen in einer längeren Anlaufzeit und einer kontinuierlicheren Wirkung. „Die bei ADHS angewendeten Medikamente können die Störung nicht heilen, sondern verbessern die Funktion des Frontalhirns“, erklärt Scheer.

Zu den nicht-medikamentösen Therapieoptionen, die zusätzlich angewandt werden sollen, zählen die Unterstützung der Pädagogik, wie Strukturierung des Alltags und verhaltenstherapeutische Maßnahmen. Wenn ADHS negative Auswirkungen zeigt und korrekt diagnostiziert wird, wäre es ein Fehler, den Betroffenen die medikamentöse Therapie vorzuenthalten – sind sich die Experten einig.

Fehldiagnosen vermeiden

Fehldiagnosen von ADHS treten umso häufiger auf, je weniger Fachleute in einer Region vorhanden sind. „Wenn die Diagnose etabliert ist, und man nach der Devise ,one diagnosis, one drug‘ handelt und nur einmal im Jahr die Entwicklung der Patienten kontrolliert wird, kann es theoretisch möglich sein, dass auch Nicht-ADHS-Kinder fälschlicherweise medikamentös behandelt werden“, so Scheer. Wenn die Diagnose „on spot“ gemacht wird, ein Kind mit expansiver Problematik vorgestellt wird und zusätzlich ein psychosoziales Problem, wie die Scheidung der Eltern, Armut etc. vorliegt, bekommt das Kind, wenn es auf unerfahrene Leute trifft, möglicherweise eher ein Amphetamin. Richtig sei eine korrekte Anamneseführung unter Einschließung der psychosozialen Belastungsfaktoren, die im Falle des Vorliegens eher gegen ein ADHS sprechen.

Ein großes Versorgungsproblem sieht auch Popow, die Kinder würden oft nicht richtig abgeklärt. Etwa fünf Prozent der österreichischen Bevölkerung hätten ADHS. Den circa 30.000 Kindern, die in Österreich davon betroffen seien, stünden jedoch nur eine Handvoll Kinderpsychiater gegenüber. „Die ADHS-Diagnose ist wie ein Puzzle, das man lösen muss“, führt Popow aus. Zur Fremdeinschätzung durch Lehrer und Eltern kommen noch psychologische Tests und Gespräche mit den Kindern darüber, wie groß die Beeinträchtigung und der Leidensdruck aller Beteiligten ist, hinzu, sodass sich die Diagnose Stück für Stück zusammenfügt. „Wenn das ein erfahrener, gut ausgebildeter Arzt oder Psychologe gewissenhaft macht, ist eine Unterscheidung zu anderen, ähnlichen Problemen sehr gut möglich“, so Popow weiter. Wichtig ist auch das Erkennen spezieller Erkrankungen wie das Asperger Syndrom, bei dem ADHS wesentlich häufiger auftritt.

ADHS oder unreife Kinder?

In US-amerikanischen Studien wurden Überlegungen dahingehend angestellt, ob einige ADHS-Patienten zu früh eingeschult und ihre Unreife dann auf emotionaler und intellektueller Ebene falsch gedeutet wird. „Dagegen spricht, dass die ADHS-Symptomatik ein Kontinuum bis ins Erwachsenenalter darstellt und, dass für Kinder in Ländern wie Frankreich und England Schulpflicht bereits ab dem fünften Lebensjahr besteht und in diesen Ländern die gleiche ADHS-Prävalenz vorherrscht“, berichtet Popow.

Die Anzahl der Kinder mit ADHS ist in den letzten Jahren gestiegen, weil das allgemeine Problembewusstsein größer geworden ist und die Kinder dank besserer Diagnostik auch erkannt werden. Sie haben nicht zuletzt dank einer verbesserten Behandlung auch eine bessere Prognose. Früher galten ADHS-Kinder als schlecht erzogen, frech und ungehorsam; sie wurden daher bestraft. Viele der heute diagnostizierten ADHS-Fälle wären noch vor wenigen Jahren übersehen worden. „Es ist wirklich schade, dass es viel zu wenig kompetente Beratungsstellen gibt, und dass vor allem Lern- und Teilleistungstraining nicht als medizinische beziehungsweise psychologische Behandlung sondern als pädagogische Maßnahme gesehen werden, weshalb sich die Krankenkasse als nicht dafür zuständig erklärt, was eine Benachteiligung der ärmeren Kinder bedeutet“, bedauert Popow abschließend.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 8 / 25.04.2011