Stand­punkt – Vize-Präs. Artur Wech­sel­ber­ger: Pro­gram­mier­ter Versorgungsmangel

25.10.2010 | Standpunkt

(c) Zeitler

Wer die Attrak­ti­vi­tät der Arbeit im Gesund­heits­we­sen ver­schlech­tert, hat den Ver­sor­gungs­man­gel der nächs­ten Jahr­zehnte zu ver­ant­wor­ten. So kom­men­tierte Katja Neu­bauer, eine Exper­tin für Gesund­heits­sys­teme und Gesund­heits­stra­te­gien der EU-Kom­mis­sion, im Rah­men des Euro­pean Health Forum Gas­tein 2010 die Zukunft der Gesund­heits­be­rufe in Europa. Gelingt es nicht, diese attrak­ti­ver zu gestal­ten, um Beschäf­tigte für das Gesund­heits­we­sen zu gewin­nen und dort zu hal­ten, wer­den inner­halb von zehn Jah­ren rund eine Mil­lion Ärz­tIn­nen und Pfle­ge­rIn­nen feh­len. Rund 15 Pro­zent der not­wen­di­gen Ver­sor­gungs­leis­tun­gen könn­ten dann nicht mehr erbracht wer­den. Ver­schärft wird diese Situa­tion zudem durch die demo­gra­fi­sche Ent­wick­lung einer altern­den Gesell­schaft, die auch vor den der­zeit im Gesund­heits­we­sen Beschäf­tig­ten nicht Halt macht.

Was Katja Neu­bauer für die EU-Staa­ten mit ihren 15 Mil­lio­nen Beschäf­tig­ten im Gesund­heits­we­sen pro­gnos­ti­ziert, gilt auch für Öster­reich. Die als Pro­fes­sio­na­li­sie­rung des Arzt­be­ru­fes bezeich­nete Ent­wick­lung der letz­ten Jahre mit einer Zunahme an Regle­men­tie­run­gen in Aus­bil­dung und Berufs­aus­übung, ver­schärft durch Zeit- und Qua­li­täts­druck, hat eine Spi­rale in Gang gesetzt, die oft dem beruf­li­chen Ziel nach empa­thi­scher und indi­vi­du­el­ler Pati­en­ten­be­treu­ung, aber auch nach Wis­sen­schaft­lich­keit ent­ge­gen­läuft. Ein­schrän­kende gesetz­li­che und sozi­al­ver­si­che­rungs­recht­li­che Vor­ga­ben erschwe­ren das Ein­ge­hen auf die per­sön­li­che Situa­tion des ein­zel­nen Pati­en­ten. Gleich­zei­tig wer­den in der Bevöl­ke­rung Erwar­tungs­hal­tun­gen geschürt, die vom Gesund­heits­sys­tem und den darin Täti­gen nicht erfüllt wer­den kön­nen. Eine zuneh­mende Zahl an Haf­tungs­for­de­run­gen unzu­frie­de­ner Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten, aber auch von Burn-out-Erkran­kun­gen bei Ange­hö­ri­gen der Medi­zin­be­rufe sind die Folge.

Wäh­rend die Ärz­te­schaft wie auch das medi­zi­ni­sche Per­so­nal, geplagt von Spar­druck und Vor­wür­fen der Inef­fi­zi­enz und Kos­ten­trei­be­rei, mit ver­knapp­ten Res­sour­cen das Aus­lan­gen zu fin­den ver­sucht, wächst die Büro­kra­tie. Nicht­me­di­zi­ner über­flu­ten unter eif­ri­ger Mit­wir­kung von Volks­ver­tre­tern das Sys­tem mit oft krau­sen Ideen, Vor­schlä­gen und Geset­zes­in­itia­ti­ven. Dabei zen­trie­ren sie ihren Fokus nicht unbe­dingt auf die Pati­en­ten­be­hand­lung und auf den Arbeits­platz der Gesund­heits­be­rufe. Ihr Ziel ist – die 14. Ärz­te­ge­setz­no­velle hat es deut­lich gezeigt – der Erhalt des Ein­flus­ses der Län­der, der Schutz der ambu­lan­ten Kran­ken­an­stal­ten und die Kos­ten­ho­heit der Sozi­al­ver­si­che­run­gen. Kein Gedanke an die Grup­pen­pra­xis als attrak­ti­ven Ort der medi­zi­ni­schen Leis­tungs­er­brin­gung, die Ärz­tin­nen und Ärzte ermun­tert, ihr Ange­bot zu erwei­tern und dafür mit steu­er­li­chen oder arbeits­recht­li­chen Anrei­zen gelockt und belohnt wer­den. Kein Gedanke daran, die rasch wach­sende alternde Bevöl­ke­rung als Chance zur Ver­än­de­rung der Ver­sor­gungs­struk­tu­ren zu sehen und diese pati­en­ten­nä­her zu gestal­ten. Keine Idee, das Gesund­heits­po­ten­tial der älte­ren Men­schen durch Prä­ven­ti­ons­pro­gramme zu heben und mit ver­bes­ser­ten orga­ni­sa­to­ri­schen Maß­nah­men die Betreu­ung zuhause zu erleich­tern. Ver­säum­nisse, die den Ärz­tin­nen und Ärz­ten den Arbeits­all­tag erschwe­ren und Pati­en­ten schluss­end­lich doch wie­der in sta­tio­näre Behand­lung und Pflege zwin­gen. Und dort, im Kran­ken­haus, fül­len sie Ambu­lan­zen und Bet­ten, die nicht für sie gedacht sind, ver­brau­chen sie die Arbeits­zeit von Per­so­nal, das für andere Auf­ga­ben ein­ge­stellt wurde.

Selbst bei inno­va­ti­ven Pro­jek­ten wie E‑Medikation und ELGA bil­den nicht Arbeits­er­leich­te­run­gen in der Pati­en­ten­be­hand­lung und damit das Arbeits­um­feld der Ärz­tin­nen und Ärzte und deren Arbeits­si­tua­tion den Schwer­punkt der Ziel­set­zung. Sonst könnte es nicht sein, dass der Pro­zess- und Qua­li­täts­ver­bes­se­rung durch eine Beschleu­ni­gung und Ver­ein­fa­chung der Abläufe in der Pati­en­ten­ver­sor­gung so wenig Auf­merk­sam­keit geschenkt wird. Wozu auch? Schließ­lich ist man­chem Ent­schei­dungs­trä­ger ein nach­hal­ti­ger Impuls für die Elek­tro­in­dus­trie oder die Kon­trolle über medi­zi­ni­schen Daten und Leis­tungs­er­brin­ger viel wich­ti­ger als deren Arbeits­be­din­gun­gen im Gesund­heits­we­sen. Des­halb seien die Gedan­ken von Katja Neu­bauer noch ein­mal in Erin­ne­rung gebracht. – Wer die Attrak­ti­vi­tät der Gesund­heits­be­rufe ver­min­dert, ist letzt­lich auch für den Ver­sor­gungs­man­gel der Zukunft verantwortlich.

Artur Wech­sel­ber­ger
1. Vize-Prä­si­dent der Öster­rei­chi­schen Ärztekammer

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 20 /​25.10.2010