Versicherungsfremde Leistungen: Verfassungswidrig!

10.05.2010 | Politik


In einem Gutachten kommt der Wiener Verfassungsexperte Univ. Prof. Heinz Mayer zum Schluss, dass die versicherungsfremden Leistungen verfassungswidrig sind. Die Wiener Ärztekammer fordert nun die GKK auf, den Bund deswegen zu klagen
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Von Agnes M. Mühlgassner

Rund 900 Millionen Euro Mindereinnahmen für die Wiener Gebietskrankenkasse sind es allein im Jahr 2009 – wegen der versicherungsfremden Leistungen. Und es beschert der Kasse ein Defizit von rund 108 Millionen. Der größte Defizitbringer mit rund 720 Millionen Euro ist dabei der niedrige Hebesatz bei der Krankenversicherung der Pensionisten. Auch das Wochengeld in der Schwangerschaft schlägt sich hier zu Buche mit rund 60 Millionen Euro. Einen Ausgleich aus dem Familien-Lasten-Ausgleichs-Fonds (FLAF) gibt es zwar, allerdings nur zu 70 Prozent.

In dem von der Ärztekammer für Wien in Auftrag gegebenen Gutachten kommt Heinz Mayer vom Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien zu folgendem Schluss: „Versicherungsfremde Leistungen, die nicht finanziert sind – das ist verfassungswidrig. In der Verfassung ist ausdrücklich und unmissverständlich festgeschrieben: Die Erfüllung der Aufgaben der Selbstverwaltungskörper ist so festzulegen, dass eine Finanzierung sicher gestellt ist“. Und weiter: „Die Selbstverwaltung hat die Interessen der Mitglieder zu vertreten – und nicht die Interessen von Dritten.“ Die laut Mayer logische und unausweichliche Konsequenz: „Das zwingt zum Handeln: die Aufsicht, den Hauptverband, den Minister.“ Dass das Defizit durch weitere Einsparungen in der Administration verringert werden könne, ist nach Ansicht des Juristen unmöglich – angesichts der Höhe des Defizits. Mayer ortet insgesamt eine Unehrlichkeit im System: „Der Staat gewährt Leistungen und wälzt die Finanzierung auf andere ab.“ Und der Verfassungsexperte hält sich auch mit seiner Kritik an den Kassen nicht zurück: „Meiner Meinung nach verhält sich der Vorstand rechtswidrig, denn er muss einer Insolvenz vorbeugen.“ Der Ausweg aus dieser Situation: Der Vorstand der GKK sollte mittels Individualantrag versuchen, die versicherungsfremden Leistungen wegzubekommen.

Johannes Steinhart, Vize-Präsident der Ärztekammer für Wien, sieht sich durch das Gutachten in seiner Haltung bestätigt: „Wir haben es jetzt hieb und stichfest: Die unfinanzierten versicherungsfremden Leistungen sind verfassungswidrig. Der Versicherte hat ein Recht darauf, dass seine Versicherung verfassungskonform agiert.“ Steinhart nimmt Hauptverbandschef Hans-Jörg Schelling und die Chefin der Wiener GKK, Ingrid Reischl, in die Pflicht: „Ich fordere die beiden auf, entsprechende Schritte zu setzen, damit die Sozialversicherung ihre Stabilität zurück erhält“. Denn allein für die Zinsen muss die Wiener GKK jährlich 20 Millionen Euro aufbringen – das entspricht in etwa der Versorgung aller neurologischen und urologischen Erkrankungen eines Jahres im niedergelassenen Bereich in Wien. Einen möglichen Weg abseits der Klage skizziert der Wiener Vize-Präsident zwar: „Der Finanzminister sollte das Problem sanieren“. Allerdings habe man dies im Zuge der Verhandlungen rund um das Kassensanierungspaket zwischen Hauptverband und ÖÄK bereits im Sideletter formuliert – „diesen Passus hat ja damals der Finanzminister aber wieder herausgenommen“.

Wären die versicherungsfremden Leistungen ausgegliedert, könnte man sich in Wien ein „ganz anderes System“ leisten, zeigt sich Steinhart überzeugt. Beispielsweise Kassenstellen für KinderPsychiatrie – bis dato gibt es keine einzige in Wien: „Und das alles nur, weil wir es nicht finanzieren können.“ Die Grundfinanzierung müsse funktionieren und die verfassungskonforme Situation hergestellt werden. „Es sind der notwendige Mut und die Haltung der Verantwortlichen gefragt“, so der Vize-Präsident. Und weiter: „Es ist nicht nur Handlungsbedarf, sondern Handlungsverpflichtung der Verantwortlichen“, so Steinhart, der die GKK auffordert, sich „endlich darum zu kümmern und den Individualantrag zu stellen“.

Unterstützung bei ihrer Aufforderung zur Klage erhielt die Wiener Ärztekammer sowohl von der FPÖ als auch von den Grünen. Der freiheitliche Ärztesprecher Andreas Karlsböck etwa sagte: „Die verfassungswidrige Verwendung von Versicherungsgeldern muss beendet werden“. Seiner Meinung nach könne der Finanzminister einer ohnehin finanzschwachen Kasse nicht auch noch Zusatzleistungen aufbürgen, die durch nichts gedeckt seien. Eine Anfechtung sei laut Karlsböck für die Kassen auch deswegen notwendig, um die Glaubwürdigkeit den Vertrags- und Verhandlungspartnern gegenüber aufrecht zu erhalten. Andernfalls könne die Kasse kaum Einsparungen verlangen, wenn sie selbst dieses „Sparpotential“ der versicherungsfremden Leistungen nicht nütze.

Karl Öllinger, Sozialsprecher der Grünen, wiederum meint: „Die Politik hat die Krankenkassen ins Minus getrieben und nun muss sie die Krankenkassen aus dem von den Regierungen der letzten Jahre verursachten Schlamassel wieder herausholen“. Das Gutachten des Verfassungsexperten Mayer zeige, dass die ‚Kopf in den Sand-Politik’ des Finanzministers ein Ablaufdatum hat.

Reaktionen

Hauptverbandschef Hans-Jörg Schelling lehnt eine Klage ab: „Wir lassen uns von niemandem vorschreiben, ob wir klagen“.

Ingrid Reischl, Chefin der Wiener Gebietskrankenkasse, sieht auch keinen Grund für eine Klage: „Ich lasse mir sicher nicht von der Ärztekammer vorschreiben, dass ich die Republik klagen soll.“ Reischl sieht das Vorgehen der Ärztekammer als „Teil des Verhandlungskampfes“ der derzeit in Wien laufenden schwierigen Honorarverhandlungen.

Gesundheitsminister Alois Stöger will sich in diese Diskussion nicht einmischen. „Das ist ein Thema der einzelnen Krankenversicherungen“, meinte er etwa am Rande einer Pressekonferenz in Wien. Und weiter: „Ich gebe keine Empfehlung an den Hauptverband der Sozialversicherungsträger oder Krankenkassen für eine solche Klage.“

Kein Verständnis für die Reaktion der Kassen zeigt die Pharmig, wie deren Generalsekretär Jan Oliver Huber erklärt: „Anstatt sich ernsthaft mit dem Inhalt des Gutachtens auseinander zu setzen, wird darüber diskutiert, wer wem etwas sicher nicht anschaffen darf“. Für ihn stehe außer Frage, dass die versicherungsfremden Leistungen den Krankenkassen zur Gänze ausgeglichen werden müssten.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 9 / 10.05.2010