Symposium Fehlerkultur in der Medizin: Kein Recht auf Perfektion

25.10.2010 | Politik

Durch die Kultur der Rechenschaftspflicht entsteht in der Medizin ein unglaublich bürokratischer Apparat mit der Perspektive, dass der Patient ein Recht auf Perfektion hat. Das ist nicht so, wie Experten im Vorfeld des interdisziplinären Symposiums „Fehlerkultur in der Medizin“ am 19. und 20. November in Wien erklären.
Von Birgit Oswald

Fehler passieren – auch in der Medizin. Aus diesem Grund veranstaltet das Institut für medizinische Anthropologie und Bioethik – IMABE – gemeinsam mit der Österreichischen Ärztekammer, der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt und dem Hauptverband der Österreichischen Sozialversicherungsträger ein Interdisziplinäres Symposium zur „Fehlerkultur in der Medizin“ Mitte November in Wien.

Markus Schwarz, vormaliger Wirtschaftsdirektor der Christian-Doppler-Klinik und Leiter des Public Health Instituts der PMU in Salzburg, wird in seinen Ausführungen zur Internen Kommunikation und Fehleraufarbeitung im Team vor allem auf die richtige Balance des Fehlermanagements eingehen. „Einerseits findet eine Huldigung von Fehlern statt, wo Fehler grundsätzlich als gut angesehen werden, weil dadurch gelernt werden kann. Andererseits geht es um die Prävention von Fehlern durch gewisse Strukturen. Man muss ein Mittelmaß finden“, sagt Schwarz. Dabei käme es vor allem auf die Atmosphäre innerhalb des Teams und der Institution an. Fehler sollten demnach nicht dem Individuum angehaftet, sondern in einem größeren Kontext betrachtet werden. Denn in der Regel ist ein Fehler ein Fehlverhalten mehrerer Beteiligter, wie Schwarz betont.

Ursachen identifizieren

Die Ursache für einen Fehler ist dem Experten zufolge häufig in den Kommunikationsstrukturen zu finden. Es sind meistens Ereignisse, die in der Hektik und in der notwendigen Eile passieren, die kein beabsichtigtes Fehlverhalten einer einzelnen Person, sondern ein Strukturproblem darstellen. „Das können etwa Medikamentenbeschriftungen oder die klassischen Anweisungen über das Krankenbett oder den OP-Tisch sein, wo Abkürzungen gebraucht werden, die nicht für alle Kollegen – vor allem für Mitarbeiter, die in neue Strukturen kommen – verständlich sind und oft zu Fehlverhalten führen. In jedem Team gibt es besetzte Begriffe, die für jemand Neuen fremd wirken,“ hebt Schwarz hervor.

Warum Standardfloskeln und eine einstudierte Wortwahl in der Fehlerkultur aber nur geringe Bedeutung haben, erklärt der Experte wie folgt: „Kommunikation passiert zuerst im Kopf, bevor die Worte aus dem Mund kommen. Erst in dem Bewusstsein, dass Fehler nicht das Produkt eines böswilligen Verhaltens, sondern eine gemeinsame Verantwortung des Teams sind, kann man diese Kommunikation richtig angehen. Das ist wichtiger als die Wortwahl oder die Formulierung abgespeicherter Sätze.“

Als Grundziel nennt Schwarz die Entwicklung einer Fehlerkultur, in der Fehler nicht als Schuld Einzelner, sondern als gemeinsam zu verhinderndes Ereignis wahrgenommen werden sollten. Dabei stünde vor allem die individuelle Mentalität der Teammitglieder im Vordergrund.

Die Notwendigkeit einer Fehlerkultur sieht auch Univ. Prof. Clemens Sedmak, Leiter des Zentrums für Ethik und Armutsforschung an der Universität Salzburg, gegeben und wird in seinem Vortrag zur „Persönlichen Schuld und ethischen Perspektive“ dem Begriff der Verantwortung besondere Aufmerksamkeit schenken. Dieser Begriff eines öffentlichen und institutionellen Lebens ginge demnach immer mehr verloren. Eine Kultur der Verantwortung sei in der Öffentlichkeit kaum mehr zu erkennen, meint der Experte. Dies habe sich auch durch die Wirtschaftskrise beschleunigt. Immer häufiger würden sich Institutionen durch Schutzmechanismen und Prüfungsprozeduren vor rechtlichen Schritten, zu denen immer mehr Patienten bereit seien, schützen, was der Idee einer Fehlerkultur schädlich sein. Es käme folglich zu einer Legalisierung von Interaktionen, die störend wirke. „Durch die culture of accountability – also die Kultur der Rechenschaftspflichtigkeit – entsteht ein unglaublicher bürokratischer Apparat. Diese Denkweise operiert mit einer Perspektive, dass Kunden beziehungsweise Patienten ein Recht auf Perfektion haben“, betont Sedmak. Die vertragliche Basis wird maximal präzise geregelt, wodurch sich das Moment der Verantwortung – nämlich selbst einzuschätzen und selbst zu urteilen – minimiert. Auch den Mangel an Vorbildern auf der öffentlichen Bühne sieht Sedmak als störenden Faktor bezüglich einer Kultur der Verantwortung an. Politiker treten im schlimmsten Fall zurück, Manager werden gekündigt, es sind keine ernsthafen persönlichen Risiken im Spiel. Nur wenn Menschen die Konsequenzen ihres Tuns übernehmen, könnte demnach eine Kultur der Verantwortung entstehen. Und schließlich komme es auch auf die Institution selbst an, die keinen Perfektionsanspruch vermitteln sollte. „Verantwortung wird sich nicht etablieren können, wenn Mitarbeiter beim kleinsten Fehler gefeuert werden. Patienten haben nicht das Recht auf Perfektion“, betont Sedmak mit Nachdruck.

Schuldzuweisung vermeiden

Über die Vorgangsweise nach einem Fehler stimmen beide Experten überein. Schwarz empfiehlt, von Schuldzuweisungen Abstand zu nehmen. Dabei solle zwar bewusst gemacht werden, ob es ein Einzelverschulden war; eine wertschätzende und fachorientierte Umgangsweise sollte aber immer gewahrt werden. Und auch Sedmak rät, Fehler nicht zu verleugnen. Dabei käme es darauf an, zu akzeptieren was passiert, ohne stolz darauf zu sein. „Die Frage ist nicht, wie ich den Fehler vermeiden hätte können, sondern wie ich mit dem Fehler umgehe. Es braucht Zeit und Raum, um solche Fehler zukünftig zu vermeiden.“

Für Schwarz haben auch die Hierarchien innerhalb eines Teams einen hohen Stellenwert. Um die Umsetzung der Kommunikationsstrukturen zu garantieren, spielen diese eine bedeutende Rolle. Einerseits decken sie zwar Lücken auf, andererseits decken sie diese aber durch eine übertriebene Fixierung auf eine Einzelanordnung zu, wie Schwarz beschreibt. In Hierarchien bestehen oft Probleme darin, wie Fehler aufgenommen, damit umgegangen sowie im Team diskutiert werden und wie offen der Einzelne auf Fehler anderer aufmerksam machen kann. „Prävention heißt sehr stark in die Kultur des einzelnen Teams hineinzuarbeiten, um dort das Bewusstsein für das frühzeitige Erkennen von sich falsch entwickelten Situationen sicher zu stellen“, sagt Schwarz. Daher sollte jedes Teammitglied eigenständig mitdenken, wenn etwa eine falsche Zuweisung oder Dokumentation passiert. Das ist dem Experten zufolge aber nur möglich, wenn jeder Einzelne eine entsprechende Offenheit im Team erlebt.

Sedmak wird sich in seinem Vortrag auch mit dem Begriff der Schuld befassen: „Der Schuldbegriff hat immer noch eine moralische-religiöse Komponente und wird mit Sünde und Beichte assoziiert“. Der Experte wird auf die historische Komponente und die heutige Relevanz des Begriffs eingeben. „Das Christentum hat die Idee der persönlichen Sünde in die abendländische Welt gebracht. Das war in der griechisch-römischen Philosophie als Denkkategorie noch nicht vorhanden“, weist Sedmak hin. Der Schuldbegriff läuft aber seinerseits Gefahr als „zahlbare Schuld“ bagatellisiert zu werden. Während eine sogenannte Scham-orientierte Gesellschaft Fehler mit Ächtung ahndet, kann Schuld in liberalen Schuld-orientierten Gesellschaft saniert werden. „In unserer Schuld-orientierten Gesellschaft funktioniert das vielfach so: Fahre ich zu schnell, zahle ich die Strafe und der Fall ist schon erledigt. Wenn jemand sein eigenes Versagen Ernst nimmt, dann wird er das nicht so leichtfertig abschütteln können. Menschen, die Fehler machen, lassen oft nicht zu, dass sie aus dem Fehler lernen“, sagt Sedmak. Und hier deutet sich die Einladung für eine Lernkultur im medizinischen Alltag an.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2010