Projekt Soziale Kompetenz: Patientensicht erleben

25.09.2010 | Politik

Dem Vorwurf des mangelnden Patientenkontakts im Medizinstudium will das Projekt „Soziale Kompetenz“ an einem Wiener Krankenhaus entgegnen: Dabei begleiten Medizinstudenten geriatrische und pflegebedürftige Menschen mit dem Ziel, das Krankenhaus-Umfeld aus der Perspektive des Patienten kennenzulernen.
Von Birgit Oswald

Unter dem Titel „Soziale Kompetenz“ wird es jungen Medizinstudenten in der Praxis ermöglicht, den Spitalsalltag aus den Augen der Patienten zu erleben, dadurch das eigene Einfühlungsvermögen zu erleben und Empathie dem Patienten gegenüber zu entwickeln. „Soziale Kompetenz hat man oder nicht. Auf gleicher Augenhöhe in gleichzeitiger Gesprächszeit mit dem Patienten kommunizieren und ihm zuhören, ist aber auch möglich, wenn man weniger empathisch veranlagt ist. Durch das Projekt kann ein Grundumgang mit Patienten erlernt und in der Praxis geübt werden“, so Gerald Ohrenberger, geschäftsführender ärztlicher Leiter im Haus der Barmherzigkeit und Schirmherr des Projekts.

Das neue Modell löst die bisher vorgeschriebene Berufsfelderkundung, die ursprünglich vor dem Beginn des Medizinstudiums absolviert wurde, ab. Problematisch daran war vor allem die Integration der Bewerber in das krankenhausähnliche Arbeitsumfeld, da diese noch keine Medizinstudenten waren und über keinen medizinischen Status verfügten. Folglich beschloss Projektleiter Univ. Prof. Christoph Gisinger, ärztlicher Direktor des Hauses der Barmherzigkeit, zusammen mit der Meduni Wien das Projekt „Soziale Kompetenz“ an einem Punkt anzusetzen, an dem die Studierenden bereits zum Studium zugelassen und in dieses eingeführt sind. Das Projekt führt die Studierenden Schritt für Schritt in den Patienten-Alltag ein. Dabei folgt nach einer fachlich angemessenen Einführungsvorlesung der praktische Schritt ins Haus der Barmherzigkeit, wo für viele Studierende der allererste Patientenkontakt ihrer zukünftigen Medizinerkarriere stattfindet. Um alle 700 Studenten in das Projekt zu integrieren, fand der Praxisteil sowohl im Haus der Barmherzigkeit in der Seeböckgasse als auch in der Niederlassung in der Tokiostraße statt. Die Wiener Pflegeeinrichtungen, die vor allem geriatrische und pflegebedürftige Patienten beherbergen, wurden laut Ohrenberger bewusst ausgewählt, da der geriatrische Sektor immer mehr an Bedeutsamkeit gewinne und für künftige Mediziner ein umfangreiches Arbeitsgebiet darstellen wird.

Freiwillige Teilnahme

Alle Studierenden besuchten zu Beginn des Praxisteils ein Einführungstutorium in Kleingruppen von 25 Leuten, wobei festgelegt wurde, welche Patienten betreut werden. Gab es unüberwindliche Schwierigkeiten zwischen einem Studenten und dem zugeteilten Patienten, gab es die Möglichkeit, zu einem anderen Patienten zu wechseln. Die Patienten wurden im Vorfeld über das Projekt informiert und nahmen freiwillig daran teil. Besonders Menschen, die schon sehr viel Leid im Laufe ihres Lebens erlitten hatten, wurden von den Studierenden besucht – darunter waren vor allem Bewohner, die unter den Folgen eines Schlaganfalls litten sowie Patienten mit Multipler Sklerose und auch Demenzkranke. Voraussetzung dabei war nicht die Mobilität der Bewohner, sondern die Kommunikationsfähigkeit. „Geriatrische und pflegebedürftige Patienten können am wenigsten selbst auf sich aufmerksam machen, obwohl sie einen massiven Teil der Patientenschaft ausmachen. Durch den intensiven Kontakt mit ihnen konnten die Studierenden über ihre Erwartungen in die Heilung, sowie über Ängste und ihr Leben sprechen. Viele Studierende wunderten sich, wie interessant so ein Alltag sein kann“, erzählt Ohrenberger. Auch für die in das Projekt involvierten Ärzte, Schwestern und das Lehrpersonal sei es äußerst aufschlussreich gewesen, wie Patienten ihr Umfeld wahrnehmen, welche Ängste sie hegen und was sie als besonders angenehm und positiv empfinden.

Das Projekt der Studierenden war in sechs Einheiten gegliedert, wovon die erste für eine Hausführung und eine Einführungsbesprechung und die letzte für eine Nachbesprechung genutzt wurde. Allein oder zu zweit begleiteten die Studierenden dann den ihnen zugeteilten Patienten über vier Wochen lang je einen Tag pro Woche in ihrem Krankenhausalltag. Auf der Station erhielten die Studierenden ein kurzes Briefing durch die Stationsschwestern und lernten dann die zu betreuende Person kennen. Der gemeinsame Nachmittag wurde mit
Plaudern, Vorlesen, Spiele spielen und Besuchen im Kaffeehaus verbracht. „Ich habe eine 94-jährige Dame betreut, die zwar körperlich nicht mehr so mobil, dafür geistig sehr fit war. Ich hatte großes Glück mit der Zuteilung. Sie hat uns sehr viel von ihrem Leben erzählt und wir ihr auch von unserem“, schildert Paul Heißenberger, der als einer der Studenten am Projekt teilnahm.

Ziel: besseres Verständnis

Das Ziel des Projekts liegt somit nicht darin, Medizinstudenten die Realität des oft belastenden Spitalsalltags vor Augen zu führen, oder deren medizinische Fertigkeiten zu verbessern, sondern ihnen die Gelegenheit zu geben, das gesamte Krankenhaus-Umfeld durch den Patienten auf sich wirken zu lassen und so ein besseres Verständnis für die Bedürfnisse und Befindlichkeiten der Patienten zu bekommen. „Medizinische Eingriffe wurden nicht von den Studenten vorgenommen. Sie begleiteten ihre Bewohner zwar zur Physiotherapie, Infusionstherapie und bei der Verabreichung von Medikamenten. Bei schweren Operationen oder akuten Zwischenfällen waren sie aber nicht dabei. Es geht darum, mitzuerleben, was ein Patient im Rahmen einer Langzeitversorgung erlebt, das betrifft sowohl belastende, schmerzvolle als auch angenehme Aspekte des Patient-Seins“, betont Ohrenberger. Wie hilfreich und durchwegs anstrengend dieser erstmalige Patientenkontakt und das reale Spitalsumfeld sein konnte, schildert Eva Steinhofer, Medizinstudentin im zweiten Semester: „Mit den Schwestern auf der Station bin ich sehr gut ausgekommen. Ich hatte das Gefühl, zum Team zu gehören. Schwieriger war es, gleich den Draht zu den Bewohnern zu finden. Mit der Zeit ging das aber immer leichter, ich fühle mich jetzt sicherer im Patientenumgang. Diese Erfahrung wird mir sicher bei der Famulatur helfen.“

Ohrenberger zeigt sich begeistert von den Ergebnissen des Projekts: Der Großteil der Studierenden habe im Bezug auf den Patientenumgang sehr stark vom Projekt profitiert. „Es sind sehr enge Bindungen zwischen Studenten und Bewohnern entstanden. Es gibt Studenten, die die Patienten aus dem Projekt noch immer besuchen“, wie er erzählt. Manchen Studenten habe es auch leid getan, in Zukunft nicht mehr die Möglichkeit zu haben, sich so intensiv mit einem Patienten zu beschäftigen. Was es noch zu verbessern gilt, beschreibt Ohrenberger wie folgt: „Viele Studenten bringen gerade ihrem ersten Patienten viel Empathie und Engagement entgegen. Es kam dadurch bei manchen, die Demenzkranke mit Verhaltensauffälligkeiten betreuten, zu einer Überforderung, die wir nicht bedacht hatten. Hier gibt es noch Verbesserungspotential.“ Abschreckend habe das Projekt nicht gewirkt: Etwa zehn Prozent der teilnehmenden Studierenden hätten nach ihren Erfahrungen im Haus der Barmherzigkeit angegeben, zukünftig nicht Patientennähe, sondern eine wissenschaftliche oder pharmakologische Karriere anstreben zu wollen. So trage das Projekt auch dazu bei, angehende Mediziner, die eher an der Wissenschaft orientiert sind, darin zu bestärken, diesen Weg weiter zu verfolgen.

Die nächsten beiden Jahre wird das Haus der Barmherzigkeit auf Wunsch der Meduni Wien weiterhin als Partner für dieses Projekt zur Verfügung stehen. Auf diesem Weg sei laut Ohrenberger eine einheitliche Qualität der Ausbildung zu garantieren. Künftig sind weitere Einblicke in den ärztlichen Alltag geplant, allerdings soll dann eine stärkere Fokussierung auf die fachliche Kompetenz erfolgen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 18 / 25.09.2010