Poly­phar­ma­zie: Die vie­len Facetten

10.03.2010 | Politik

Die Viel­zahl der Medi­ka­mente, die spe­zi­ell älte­ren Men­schen ver­ord­net wird, kann leicht zu einem „Zuviel“ wer­den. Häu­fig baut sich so eine Arz­nei­mit­tel-Kas­kade auf, die nicht immer nur posi­tive Wir­kun­gen hat. Inter­es­sant ist jedoch, dass es auch zwi­schen Poly­phar­ma­zie und medi­ka­men­tö­ser Unter­ver­sor­gung einen linea­ren Zusam­men­hang gibt.
Von Ruth Mayr­ho­fer

Rund 90 bis 95 Pro­zent aller ver­ord­ne­ten The­ra­pien fokus­sie­ren auf Arz­nei­mit­tel. Per­so­nen ab dem 75. Lebens­jahr neh­men sta­tis­tisch gese­hen im Durch­schnitt 7,5 Medi­ka­mente zur Behand­lung ihrer Lei­den ein. Frauen haben bis­wei­len einen noch höhe­ren Arz­nei­mit­tel­kon­sum. Zu den ärzt­lich ver­ord­ne­ten Medi­ka­men­ten kom­men viel­fach noch in der Apo­theke erwor­bene OTC-Prä­pa­rate, die von den Pati­en­ten häu­fig gar nicht als Arz­nei­mit­tel wahr­ge­nom­men wer­den. Und last but not least sind es dar­über hin­aus zusätz­lich Nah­rungs­er­gän­zungs­mit­tel oder andere Prä­pa­rate, die, etwa zur Stei­ge­rung des per­sön­li­chen Wohl­be­fin­dens, wie es die Wer­bung ver­mit­telt, ein­ge­nom­men wer­den. Gemäß inter­na­tio­na­ler Defi­ni­tion liegt eine Poly­phar­ma­zie dann vor, wenn ein Pati­ent mehr als fünf Arz­nei­mit­tel zur The­ra­pie sei­ner Lei­den ein­nimmt. Oft stellt diese Zahl spe­zi­ell bei ger­ia­tri­schen Pati­en­ten das Mini­mum ihres Arz­nei­mit­tel­kon­sums dar. 

Galt in der Ver­gan­gen­heit, dass „je älter die Pati­en­ten, desto weni­ger Arz­nei­mit­tel wer­den ver­ord­net“, ist das heute nicht mehr unbe­dingt so. Selbst Men­schen über 90 Jahre, die noch daheim oder im Fami­li­en­ver­bund leben, neh­men heute immer öfter eine Viel­zahl von Medi­ka­men­ten ein. Diese „Viel­zahl“ kann leicht zu einem „Zuviel“ wer­den, heißt, dass die Mög­lich­keit besteht, dass sie unter Umstän­den ins­ge­samt mehr Scha­den als Nut­zen anrichten. 

Bei einer Exper­ten­ta­gung in Wien brachte es der Inter­nist Jochen Schuler von der Uni­ver­si­täts­kli­nik Salz­burg auf den Punkt: „Wir beob­ach­ten häu­fig eine Ver­schrei­bungs­kas­kade. Uner­wünschte Wir­kun­gen, her­vor­ge­ru­fen durch Arz­nei­mit­tel 1, füh­ren zur Ver­schrei­bung von Arz­nei­mit­tel 2 und so wei­ter. Spä­ter lässt sich oft gar nicht mehr rekon­stru­ie­ren, wer was warum und wann ange­ord­net hat. Die Pati­en­ten, die im Regel­fall nicht nur einen ein­zi­gen Arzt auf­su­chen, sind beson­ders gefähr­det, weil die Ärzte oft im Unkla­ren gelas­sen wer­den, wel­che Medi­ka­mente ein bestimm­ter Pati­ent ein­nimmt, sie nicht dezi­diert nach­fra­gen oder ein Pati­ent selbst auf Nach­frage keine klare Aus­kunft geben kann“. Außer­dem sei die Arz­nei­mit­tel-Dosis oft dem Alter der Pati­en­ten nicht ange­passt, die Arz­nei­mit­tel­wahl pro­ble­ma­tisch, Dop­pel­ver­schrei­bun­gen nicht aus­zu­schlie­ßen. So ver­dür­ben viele Ärzte den Brei, meint Schuler, wenn auch die Non-Com­pli­ance der Pati­en­ten beim Thema Poly­phar­ma­zie eine nicht zu ver­nach­läs­si­gende Rolle spielte. Das Bild des Haus­arz­tes als „Lotse“ im Gesund­heits­sys­tem sei jedoch nach wie vor eher Wunsch als Rea­li­tät, gibt der Arzt zu beden­ken. Auch im Schnitt­stel­len-Manage­ment zwi­schen sta­tio­nä­rem und ambu­lan­tem Bereich müsse man in die­ser Hin­sicht trach­ten, im Inter­esse der Pati­en­ten und des öffent­li­chen Gesund­heits­we­sens Defi­zite zu reduzieren.

Pati­en­ten­auf­klä­rung forcieren! 

Diese Ent­wick­lung unter­streicht auch Otto Pjeta, Lei­ter des Refe­rats für Medi­ka­men­ten­an­ge­le­gen­hei­ten der Öster­rei­chi­schen Ärz­te­kam­mer: „Bei Ver­ord­nun­gen ist der nie­der­ge­las­sene Bereich oft dem Spi­tals­be­reich aus­ge­lie­fert, weil das Kran­ken­haus sich auf die mög­li­che, nicht aber auf die not­wen­dige Dia­gnos­tik kon­zen­triert“. Außer­dem möchte der Pati­ent – und dafür zeigt Pjeta Ver­ständ­nis – zur Hei­lung oder Lin­de­rung sei­nes Lei­dens bezie­hungs­weise zur Ver­län­ge­rung sei­nes Lebens mög­lichst jede Mög­lich­keit nut­zen und nimmt dafür auch einen hohen Medi­ka­men­ten­kon­sum in Kauf. Außer­dem unter­lä­gen Ärzte bis­wei­len einem enor­men Druck der Pati­en­ten, wenn es um Ver­ord­nun­gen geht. In sei­ner Pra­xis erlebt Pjeta dies täg­lich und akzep­tiert bei Risi­ko­pa­ti­en­ten zumeist die­sen Wunsch. „Wenn ein Pati­ent einen Pro­to­nen­pum­pen­hem­mer als Magen­schutz haben möchte, dann kann ich ihn dar­über auf­klä­ren, warum die­ser viel­leicht nicht unbe­dingt not­wen­dig ist. Besteht der Pati­ent aller­dings auf eine Ver­ord­nung, dann bekommt er die­ses Rezept“. Der Grund: „Falls er einen Magen­durch­bruch erlei­det, liegt die Letzt­ver­ant­wor­tung doch immer beim Arzt“. Auf inten­sive Infor­ma­tion setzt er aller­dings dann, wenn das Begeh­ren nach einem Arz­nei­mit­tel zum Bei­spiel auf einer Wer­be­bot­schaft in Medien beruht oder jemand ver­meint, im Inter­net auf ein „Wun­der­mit­tel“ gesto­ßen zu sein: „Wenn man den Men­schen ver­nünf­tig erklärt, warum dies oder jenes wirk­lich nicht not­wen­dig erscheint, dann kommt man mit die­ser Bot­schaft auch an“, erklärt Pjeta. 

Über­ver­sor­gung und Unterversorgung 

Aber es ist nicht nur eine mög­li­che Über­ver­sor­gung mit Medi­ka­men­ten, die den Exper­ten – und den Kos­ten­trä­gern – zu den­ken gibt. „Inter­es­sant ist der Umstand, dass es auch zwi­schen Poly­phar­ma­zie und medi­ka­men­tö­ser Unter­ver­sor­gung einen linea­ren Zusam­men­hang gibt“, stellt Mar­kus Gosch, Ober­arzt an der Abtei­lung für Innere Medi­zin und Akut-Ger­ia­trie am LKH Hoch­zirl und Lei­ter der Arbeits­gruppe Poly­phar­ma­zie und Phar­ma­ko­the­ra­pie im Alter der Öster­rei­chi­schen Gesell­schaft für Ger­ia­trie und Geron­to­lo­gie (ÖGGG), fest. Als Bei­spiel und zur Unter­maue­rung der finan­zi­el­len Dimen­sion für das Gesund­heits­we­sen führt Gosch die Indi­ka­tion Osteo­po­rose an: „In Öster­reich kommt es jähr­lich zu 14.000 Ober­schen­kel­hals­frak­tu­ren. Die Kos­ten der medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung (OP und Spi­tals­auf­ent­halt) betra­gen aktu­ell 12.500 Euro pro Fall, das macht bei 14.000 Pati­en­ten 175 Mil­lio­nen Euro. Kal­ku­liert man dazu noch die Kos­ten der Remobilisation/​Folgekosten, ver­drei­facht sich diese Zahl auf rund 525 Mil­lio­nen Euro pro Jahr. Für die The­ra­pie der Osteo­po­rose ste­hen ver­schie­dene Sub­stan­zen zur Ver­fü­gung – Cal­cium, Vit­amin D3, Bis­phos­pho­nate, Stron­ti­um­ra­nelat bezie­hungs­weise Raloxi­fen bil­den die Eck­punkte der The­ra­pie. Den­noch erhält nur jeder fünfte Osteo­po­rose-Pati­ent eine The­ra­pie, obwohl auch für hoch­be­tagte Per­so­nen ein medi­zi­ni­scher und volks­wirt­schaft­li­cher Nut­zen nach­ge­wie­sen wer­den konnte. Daher stellt die Osteo­po­rose nur ein ein­drucks­vol­les Bei­spiel für eine medi­ka­men­töse Unter­ver­sor­gung dar“.

„Die Apo­the­ken als ‚Abge­ber‘ ver­ord­ne­ter Arz­neien oder Ver­käu­fer von rezept­freien Pro­duk­ten spie­len auch zur Ver­mei­dung von Poly­phar­ma­zien eine wich­tige Rolle“, gibt Otto Pjeta zu beden­ken. Aller­dings: Bei OTC-Prä­pa­ra­ten ist der Pati­ent in der Apo­theke nicht vor­ran­gig Pati­ent, son­dern Kunde. Die Ver­ant­wor­tung für die Ein­nahme eines bestimm­ten Pro­duk­tes liegt also in die­sem Fall ein­deu­tig beim Käu­fer. Somit plä­diert Pjeta für eine „Mit­ver­ant­wor­tung“ der Apo­the­ken, was sei­ner Mei­nung nach ein „Quan­ten­sprung“ wäre.

Ärz­te­schaft muss Sen­so­rium entwickeln 

Einig­keit herrscht dar­über, dass es gilt, bei den Pati­en­ten – aber auch bei der Ärz­te­schaft – mehr Bewusst­sein zum Thema Poly­phar­ma­zie zu schaf­fen. Aber wie sollte das am bes­ten gesche­hen? Jochen Schuler spricht sich in die­sem Zusam­men­hang für eine Stär­kung der Haus­ärzte, eine ver­mehrte Schu­lung der Ärzte ganz all­ge­mein und für die Ein­be­zie­hung der Apo­the­ken sowie der Pflege aus. Otto Pjeta plä­diert für einen „kon­zer­tier­ten Ver­nunfts-Appell“ den Pati­en­ten gegen­über. So könnte er sich vor­stel­len, das Thema Arz­nei­mit­tel-Infor­ma­tion zu einem ver­pflich­ten­den Teil der Ärzte-Fort­bil­dung wer­den zu las­sen. Die Sozi­al­ver­si­che­rung bezie­hungs­weise die Kran­ken­kas­sen soll­ten sei­ner Mei­nung nach eine umfas­sende Infor­ma­tion für ihre Ver­si­cher­ten anstre­ben. Pjeta selbst hat bereits die Initia­tive ergrif­fen: In sei­ner Ordi­na­tion hängt seit eini­ger Zeit ein Pla­kat mit der Auf­schrift: „Wenn Sie glau­ben, dass Sie zu viele Medi­ka­mente neh­men: Spre­chen Sie bitte mit mir“!

Behand­lungs­leit­li­nien, wie sie für viele Erkran­kun­gen auf dem Tisch lie­gen, sind für ältere und hoch betagte Men­schen nicht unbe­dingt anwend­bar, ori­en­tie­ren sie sich doch im Regel­fall nicht spe­zi­ell an die­ser Pati­en­ten­gruppe. Schuler will zur Ent­wick­lung sol­cher Behand­lungs­stra­te­gien ins­be­son­dere die Ger­ia­ter in die Pflicht genom­men wis­sen. Die ÖGGG hat zum Thema Poly­phar­ma­zie bereits einen Flyer auf­ge­legt. Den häu­fig geäu­ßer­ten Wunsch nach kli­ni­schen Stu­dien, die sich mit Arz­nei­mit­tel­wir­kun­gen an älte­ren Per­so­nen aus­ein­an­der­set­zen, bezeich­net Pjeta als „naiv“, weil die Kos­ten dafür – wie bei ande­ren kli­ni­schen Stu­dien auch – außer­or­dent­lich hoch sind und sich unver­meid­bar die Frage „Wer soll das bezah­len?“ stellt.

Para­dig­men­wech­sel gefordert 

„Wir brau­chen einen Para­dig­men­wech­sel“, ist Jochen Schuler über­zeugt. Die Arz­nei­mit­tel­si­cher­heit muss in den Fokus unse­rer Bemü­hun­gen rücken, eine Über­prü­fung von mög­li­chen Arz­nei­mit­tel-Inter­ak­tio­nen oder uner­wünsch­ten Arz­nei­mit­tel­wir­kun­gen Usus wer­den. Bei der Ver­ord­nung von Medi­ka­men­ten sollte eine Prio­ri­sie­rung nach Kri­te­rien wie zum Bei­spiel Kura­tion, Prä­ven­tion und Pal­lia­tion nach defi­nier­ten Sche­mata erfol­gen. Otto Pjeta hin­ge­gen ver­misst Gesamt-Struk­tu­ren zur Lösung des „Pro­blems Poly­phar­ma­zie“ – der­zeit gäbe es dazu „ledig­lich Ein­zel­stra­te­gien, kein Gesamt­kon­zept“. Die Gret­chen­frage, die es zu beant­wor­ten gilt, so Pjeta, wäre jene, wel­che Prio­ri­tä­ten ein alter Mensch im Hin­blick auf seine Krank­heit hat. Zur Beant­wor­tung die­ser Frage sei pri­mär die Sozi­al­ver­si­che­rung gefor­dert. Aber kann sie hier über­haupt eine Fest­le­gung tref­fen, ohne dass sie sich den Vor­wurf einer Ratio­nie­rung gefal­len las­sen müsste? Pjeta: „Falls man Ratio­nie­run­gen will, soll man das auch deut­lich sagen. Aber ich glaube nicht, dass dies je aus­ge­spro­chen wer­den wird. Das hielte näm­lich kein Gesund­heits­po­li­ti­ker aus“. 

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 5 /​10.03.2010