Pflegegeld: Zwischen den Fronten

25.09.2010 | Politik

Mehr als 360.000 Österreicher beziehen derzeit aufgrund ihrer gesundheitlichen Situation Pflegegeld. Die Tendenz ist schon allein aus Gründen der Demographie steigend. Dennoch – oder gerade deswegen – kommt es rund um die Erstellung von Pflegegutachten immer wieder zu Kontroversen.
Von Ruth Mayrhofer

Immer mehr Menschen brauchen wegen gesundheitlicher Gebrechen speziell im Alter oder aufgrund einer akuten Erkrankung Hilfe und Pflege im Alltag. Längst vergangen sind die Zeiten, in denen drei Generationen unter einem Dach gewohnt haben und die Pflege der Angehörigen im Familienverbund geschafft wurde. Söhne und Töchter sind berufstätig, leben anderswo. So müssen immer häufiger Pflegeleistungen zugekauft werden. Das Pflegegeld ist ein Faktor, der eine kritische Situation entschärfen und Pflege leistbar(er) machen kann.

Bis vor wenigen Jahren wurde Pflegegutachten – also jene Untersuchungen, die zu einer Einstufung für das Pflegegeld führen – von Haus- beziehungsweise Gemeindeärzten durchgeführt, berichtet der niedergelassenen Allgemeinmediziner Bernhard Schlosser aus Oberösterreich. Heute sei das nicht mehr so. Diese Aufgabe wurde per Verordnung an Ärzte, die im Auftrag der Pflegegeld auszahlenden Stellen arbeiten, delegiert. In vager Diskussion befindlich ist aktuell eine Einbindung der Pflege in den Einstufungsprozess. Alles Dinge, die nicht nur zu positiven Reaktionen geführt haben beziehungsweise führen.

Der niedergelassene Allgemeinmediziner Bernhard Schlosser lebt, wie er selbst sagt, „am letzten Ende vom Land“. Seine Ordination betreibt er in der 1.735 Einwohner zählenden oberösterreichischen Gemeinde Liebenau auf einem in knapp 1.000 Meter gelegenen Hochplateau im Mühlviertel. Jahrelang hat er sich – gemeinsam mit fünf weiteren Kollegen – auch in Sachen Pflegegutachten um seine Patienten gekümmert. Er ist nach wie vor davon überzeugt, dass Hausärzte die erste Adresse sein sollten, die den Pflegebedarf eines Patienten bestimmen sollten. „Die Einschätzung des effektiven Pflegeaufwandes kann am besten von jemandem durchgeführt werden, der den Patienten und sein Umfeld kennt“, ist Schlosser überzeugt. „Wir Gemeindeärzte können besser als jeder andere in die Familien hineinschauen, besser beurteilen, was auch für die Angehörigen zumutbar ist und was nicht.“ Das Argument, dass Hausärzte allerdings bei der Erstellung von Pflegegutachten im Gegensatz zu von der Behörde bestellten Ärzten befangen seien oder gar für ihre Patienten eine höhere Pflegestufe als notwendig „herausschlagen“ wollen, wischt der Arzt vom Tisch: „Das ist schlicht eine Frechheit!“ Der Aufwand, getrieben für fraglichen Gewinn, sei schon allein aus ökonomischen Gründen verzichtbar.

Anders sieht das Gabriele Gort, die in Vorarlberg seit fünf Jahren als Wohnsitzärztin für die Pensionsversicherung, das Bundespensionsamt und die Bezirkshauptmannschaft pro Jahr rund 1.000 Einstufungsuntersuchungen bei Pflegegeldandwärtern vornimmt. „Natürlich können Hausärzte aus fachlicher Sicht Pflegegutachten erstellen“, sagt sie, „jedoch bitte nicht bei ihren eigenen Patienten!“ Gort: „Ich komme als neutrale Person zu den Patienten und gehe als neutrale Person wieder. Auch ich kann die Erwartungen der Patienten oder deren Angehörigen nicht immer erfüllen. Dahingegen bleibt der Hausarzt immer der Hausarzt, der den Patienten oder oft die ganze Familie behandelt – da baut sich vielleicht doch Druck auf.“

Einbindung der Pflege?

Diskutiert wird derzeit ein Modell, welches für die Ersteinstufung für das Pflegegeld ein ärztliches Attest vorsieht; Folgeeinstufungen könnten dann mithilfe von Pflegepersonal erfolgen. Für Gabriele Gort ist dies nur schwer denkbar: „Das ist eine ärztliche Tätigkeit und muss es auch bleiben. Man muss bei jeder Einstufung von Neuem beginnen, eine umfassende Diagnose und eine Prognose erstellen. Dafür ist umfassendes allgemeinmedizinisches Wissen notwendig und viel ärztliche Erfahrung.“

Der zeitliche Faktor

Der Prozess, bis eine Person Pflegegeld zugesprochen beziehungsweise ausbezahlt bekommt, kann dauern. „Man hat den Eindruck, dass manchmal
so lange zugewartet wird, bis der Patient verstirbt“, kritisiert Schlosser. „Als Arzt ist es bitter, bei tagtäglichen Besuchen beim Patienten zu sehen, wie die Schere zwischen dem zu treibenden Pflegeaufwand und zunehmender Wartefrist verkehrt proportional ist.“ Natürlich läge dies an einem Problem der personellen Kapazitäten, konzediert der Arzt, somit spräche auch dieser Umstand für die Leitfunktion des Hausarztes, wenn es um eine Pflegegeldeinstufung geht.

Sozialminister Rudolf Hundstorfer bestätigte bei einer Veranstaltung im Frühjahr 2010, dass für etwa 15 Prozent der Pflegegeldbezieher, das entspricht 360.000 Personen in ganz Österreich, die Zeiträume bis zur Einstufung „problematisch“ seien. Er strebt daher generell eine Bearbeitungsfrist von 60 Tagen an. „60 Tage, also zwei Monate, das wäre schön“, meint Schlosser dazu, „denn wir haben auch schon Verfahrensdauern von drei bis vier Monaten gehabt.“ Und das sei eindeutig zu lang, weil in dieser Zeit meist die Angehörigen mit der Beschaffung von Hilfsmitteln – wie zum Beispiel Rollator, Windeln – dem Bezahlen von Selbstbehalten, zur Kasse gebeten würden. Und das, so Schlosser, „geht bei manchen schon an die Existenz.“

Differenzierter sieht Gabriele Gort eine einheitlich vorgegebene Bearbeitungsdauer:„Man kann das nicht über einen Kamm scheren.“ Oft gilt es nämlich, während des Verfahrens, Befunde abzuwarten, oder die Rückkehr eines Betroffenen aus einer Reha-Einrichtung oder sogar aus dem Urlaub. Auch Terminverschiebungen – etwa weil ein Patient sich einer Chemotherapie unterziehen muss – spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle, wenn es um das Kriterium Zeit geht. Daher: „Ich würde mich nicht getrauen zu sagen, dass jedes Gutachten in 60 Tagen zu schaffen ist. Alle sind jedoch bemüht, die Verfahrensdauer so kurz wie möglich zu halten.“

Informations- und andere Defizite

„Viele Personen suchen viel zu spät um Pflegegeld an“, weiß Gort. Aus ihrer Erfahrung seien es besonders onkologische Patienten, die in der Hoffnung auf Heilung das Thema weit von sich schieben würden. Auf der anderen Seite schämen sich noch immer insbesondere ältere Personen, um Pflegegeld anzusuchen. Motto: „Um Gottes Willen, wenn das der Nachbar erfährt…!“ Problematisch sieht Gort auch den Umstand, dass oft weder Hausärzte noch Ärzte in den Krankenhäusern darüber informiert seien, ob und in welcher Höhe bereits Pflegegeld geleistet wird. Sie wünscht sich daher im Sinne der Betroffenen das Abfragen dieser Information nicht nur im Bereich des Entlassungsmanagements in den Spitälern, sondern bei jedweder Anamnese.

Stichwort: Pflegegeld

  • In Österreich haben im März 2010 österreichweit 360.347 Personen Pflegegeld bezogen. Im Vergleich zum März 2009 sind das 12.341 Personen oder 3,5 Prozent mehr.
  • Von den zuletzt 360.347 Beziehern entfallen 77.137 auf Stufe 1, 120.244 auf Stufe 2, 59.606 auf Stufe 3, 52.432 auf Stufe 4, 32.181 auf Stufe 5, 12.186 auf Stufe 6 und 6.561 auf Stufe 7.
  • Zu den Bundespflegegeldbeziehern kommen noch mehr als 63.000 Betroffene, die ihr Pflegegeld von den Ländern beziehen (Stand: Jahresende 2008). Damit liegt die Gesamtzahl der Pflegegeld-Bezieher bei mehr als 420.000 Personen.
  • Die Summe der Aufwendungen für das Bundespflegegeld ist im Jahresvergleich ebenfalls angestiegen. Lag sie 2008 noch bei 1,774 Milliarden Euro, stiegen die Kosten 2009 auf 1,943 Mrd. Euro. Der Aufwand für das Landespflegegeld betrug gemäß Daten aus 2008 zuletzt 324,7 Millionen Euro.
  • Seit Einführung des Pflegegeldes am 1.1.1993 hat sich die Anzahl der Pflegegeld-Bezieher insgesamt um rund 56 Prozent erhöht (1993: 230.344; März 2010: 360.347).

Quellen: Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz, Kleine Zeitung, Mai 2010

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 18 / 25.09.2010