Inter­view – Dr. Michael Lang: Die alternde Gesell­schaft erfor­dert Konsequenzen

10.05.2010 | Politik

In den ver­gan­ge­nen 25 Jah­ren hat die durch­schnitt­li­che Lebens­er­war­tung um mehr als zehn Jahre zuge­nom­men. Die ÖÄK hat ein aktu­el­les „Posi­ti­ons­pa­pier Ger­ia­trie“ erstellt. Über die Details dazu infor­miert der bur­gen­län­di­sche Ärz­te­kam­mer-Prä­si­dent Michael Lang, der das Ger­ia­trie-Refe­rat der ÖÄK lei­tet.


ÖÄZ: Wel­che Motive waren für die Erstel­lung des Ger­ia­trie­pa­piers aus­schlag­ge­bend?

Lang: Wir wol­len damit die Posi­tion der ger­ia­tri­schen Medi­zin sowohl gegen­über der Ärz­te­schaft, also nach innen, als auch gegen­über der Öffent­lich­keit deut­lich machen. Und wir wol­len zei­gen, dass sich das Refe­rat als bera­ten­des Organ des Vor­stan­des um alle Ange­le­gen­hei­ten in punkto Ger­ia­trie und Geron­to­lo­gie bemüht und sich auch als Kom­mu­ni­ka­ti­ons­platt­form für Ärzte und andere Inter­es­sen­ten ver­steht.

Wel­che Rolle kommt dem Arzt in der altern­den Gesell­schaft zu?
Es steht außer Frage, dass ange­sichts der Bevöl­ke­rungs­ent­wick­lung immer mehr Men­schen mit alters­be­ding­ten Beein­träch­ti­gun­gen und Krank­hei­ten leben und leben müs­sen. Für uns ist klar, dass der nie­der­ge­las­sene All­ge­mein­me­di­zi­ner der erste kom­pe­tente Ansprech­part­ner für diese Pati­en­ten und ihre Ange­hö­ri­gen sein und blei­ben muss. Ebenso klar ist aus unse­rer Sicht, dass den All­ge­mein­me­di­zi­nern ein Addi­tiv­fach Ger­ia­trie, wel­ches der­zeit geschaf­fen wird, ebenso zugäng­lich gemacht wer­den muss wie den Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen der ande­ren Son­der­fä­cher, die die­ses Addi­tiv­fach erwer­ben kön­nen: Innere Medi­zin, Neu­ro­lo­gie, Psych­ia­trie, Phy­si­ka­li­sche Medi­zin. Es han­delt sich bei die­sem Addi­tiv­fach um eine Ver­tie­fung des Wis­sens im Bereich der jewei­li­gen ger­ia­tri­schen Inhalte. Man wird Ärzte brau­chen, die über das nötige Spe­zi­al­wis­sen ver­fü­gen, sowohl in den Spi­tä­lern, in denen die Zahl der ger­ia­tri­schen Pati­en­ten zunimmt, als auch im nie­der­ge­las­se­nen Bereich.

Müs­sen inter­es­sierte Ärzte auf die­ses Addi­tiv­fach war­ten?

Nein. Es ist geplant, mit der 14. Ärz­te­ge­setz-Novelle eine Rechts­grund­lage für die Absol­vie­rung des Addi­tiv­fachs für All­ge­mein­me­di­zi­ner zu schaf­fen. Für all jene, die die Vor­aus­set­zun­gen erfül­len, wird es Über­gangs­be­stim­mun­gen geben. Im Rah­men der Über­gangs­be­stim­mun­gen spielt das Diplom für Ger­ia­trie, das man in einer ein- bis zwei­jäh­ri­gen, 112 Stun­den umfas­sen­den Aus­bil­dung erwer­ben kann, eine bedeut­same Rolle. Ich emp­fehle die­ses Diplom daher allen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen mit Inter­esse an der Ger­ia­trie. Der­zeit ver­fü­gen 1.376 Ärz­tin­nen und Ärzte über das Diplom, dar­un­ter sind 754 All­ge­mein­me­di­zi­ner. Eine Stei­ge­rung wür­den wir uns bei den Inter­nis­ten wün­schen, wo die Zahl der Diplom-Besit­zer bei 336 liegt. Der Bedarf ist gerade in die­sem Fach für die zukünf­tige Aus­bil­dung zu Addi­tiv­fach wesent­lich größer.

Wel­che aktu­el­len Anlie­gen sind für Sie noch vor­ran­gig?
Wir tre­ten vor allem für einen kon­se­quen­ten Aus­bau der Abtei­lun­gen für Akut­ger­ia­trie ein, hier gibt es zwi­schen den ein­zel­nen Bun­des­län­dern noch große Unter­schiede. Ein­heit­li­che Qua­li­täts­stan­dards for­dern wir auch für die ärzt­li­che Betreu­ung in Alten- und Pfle­ge­hei­men. Der­zeit erfolgt sie für die ein­zel­nen Pati­en­ten durch den Haus­arzt. Dar­über hin­aus fehlt aber eine kom­pe­tente medi­zi­ni­sche Betreu­ung des gesam­ten Hei­mes, zum Bei­spiel auch in Fra­gen der rich­ti­gen Ernäh­rung. So etwas müsste im Inter­esse der Pati­en­ten flä­chen­de­ckend ein­ge­führt wer­den, wobei klar ist, dass es für diese Betreu­ung eine adäquate Ent­loh­nung der Ärzte geben muss.

Eine Frage, mit der Sie sich inten­siv aus­ein­an­der­ge­setzt haben, ist die Novelle zum Heim­auf­ent­halts­ge­setz. Zum Geset­zes­ent­wurf haben Sie sich sehr kri­tisch geäu­ßert. Wie sind Sie mit dem jetzt beschlos­se­nen Gesetz zufrie­den?
Es hat sich seit­her viel bewegt und ich muss den kom­pe­ten­ten Juris­ten im Jus­tiz­mi­nis­te­rium ein Kom­pli­ment machen: Sie haben Lösun­gen gefun­den, die den Vor­stel­lun­gen von uns Medi­zi­nern ent­spre­chen. Das gilt beson­ders für die frei­heits­be­schrän­ken­den Maß­nah­men. Es steht nun­mehr ein­deu­tig fest, dass die Grund­vor­aus­set­zung für der­ar­tige Maß­nah­men jeden­falls ein ärzt­li­ches Gut­ach­ten sein muss. Es ist jetzt auch geklärt, dass es sich um aktu­elle ärzt­li­che Beur­tei­lun­gen bezie­hungs­weise Doku­mente han­deln muss und ent­spre­chende Maß­nah­men nur in Not­fäl­len ohne ärzt­li­che Mit­wir­kung gesetzt wer­den kön­nen, und das für einen Zeit­raum von höchs­tens 48 Stun­den. Für die ärzt­li­chen Gut­ach­ten muss die Frage der Hono­rie­rung geklärt wer­den. Wir wer­den dazu ein Schema ent­wi­ckeln und zur Dis­kus­sion stel­len und anschlie­ßend der Kol­le­gen­schaft als Emp­feh­lungs­ta­rif der ÖÄK mitteilen.

Sie sind mit den neuen Rege­lun­gen also rundum zufrie­den?
So kann man es nicht sagen, denn es gibt lei­der noch kei­nen poli­ti­schen Wil­len, zwi­schen der Situa­tion in einem Heim und einem Spi­tal zu unter­schei­den, was aus unse­rer Sicht unbe­dingt not­wen­dig wäre. Aber gegen­über dem ursprüng­li­chen Ent­wurf sind die Ver­bes­se­run­gen nicht zu über­se­hen.

Ein Dis­kus­si­ons­punkt war die Mel­de­pflicht bei der Ver­ab­rei­chung von Medi­ka­men­ten an Heim­be­woh­ner. Theo­re­tisch hätte man da jedes Mal mel­den müs­sen, wenn man dem Pati­en­ten ein Schlaf­mit­tel gibt.
Hier liegt ein Ent­wurf eines Kon­sen­sus­pa­pie­res vor. Das soll unter­stüt­zen bei der Beant­wor­tung der Frage, wann die Ver­ab­rei­chung von Medi­ka­men­ten als medi­ka­men­töse Frei­heits­be­schrän­kung im Sinn des Heim-Auf­ent­halts­ge­set­zes zu qua­li­fi­zie­ren und zu mel­den ist. Ent­schei­dend ist dabei die Frage, ob die Gabe eines Medi­ka­ments unmit­tel­bar die Unter­bin­dung des Bewe­gungs­zwangs bezweckt oder ob es sich um eine ärzt­li­che Behand­lung mit unver­meid­li­chen bewe­gungs­dämp­fen­den Neben­wir­kun­gen han­delt. Las­sen Sie es mich mit einem
Bei­spiel erklä­ren: Wenn das Schlaf­mit­tel dem Pati­en­ten gege­ben wird, um ihn ruhig zu stel­len, muss es gemel­det wer­den. Wenn ihm das Mit­tel aber ver­ab­reicht wird, um seine Schlaf­stö­run­gen zu besei­ti­gen, ist es nicht mel­de­pflich­tig.

Umstrit­ten war auch die Dauer der Unter­brin­gung von psy­chisch kran­ken Pati­en­ten, die sich und andere gefähr­den.
Ja, hier hat es wesent­li­che Ver­bes­se­run­gen gege­ben: In Zukunft bedarf es für die Unter­brin­gung ohne Ver­lan­gen nur noch eines ärzt­li­chen Gut­ach­tens. Zwei ärzt­li­che Begut­ach­tun­gen sind nur erfor­der­lich, wenn dies aus­drück­lich ver­langt wird. Wei­ters wurde nicht nur von den Ärz­ten, son­dern auch von den Ange­hö­ri­gen psy­chisch Erkrank­ter oft kri­ti­siert, dass die Unter­brin­gung zu früh wie­der auf­ge­ho­ben wer­den musste, sobald die Behand­lung erste Erfolge hatte. Mit der Ver­bes­se­rung des Zustan­des der Pati­en­ten waren die gesetz­li­chen Vor­aus­set­zun­gen für die Unter­brin­gung nicht mehr gege­ben. Immer wie­der ist es aber vor­ge­kom­men, dass Pati­en­ten zu die­sem Zeit­punkt noch nicht sta­bi­li­siert waren und die Medi­ka­mente wie­der absetz­ten, die ihnen ver­schrie­ben wor­den waren. Dadurch hat sich die Krank­heit neu­er­lich ver­schlim­mert, sie muss­ten wie­der ein­ge­wie­sen wer­den. Diese ‚Dreh­tür­psych­ia­trie’ soll jetzt ein Ende haben. Nun­mehr gilt, dass eine abneh­mende Gefähr­dung von sich selbst oder ande­ren für sich allein noch nicht dazu führt, dass die Unter­brin­gung been­det wer­den muss. Ent­schei­dend ist viel­mehr eine Abwä­gung, ob die fort­dau­ernde Frei­heits­be­schrän­kung nicht auch des­we­gen gerecht­fer­tigt ist, weil sie die Erfolgs­chan­cen der Behand­lung wesent­lich erhöht.

Posi­ti­ons­pa­pier Ger­ia­trie der ÖÄK

Grund­sätz­li­ches

Auf­grund der demo­gra­phi­schen Bevöl­ke­rungs­ent­wick­lung kommt der Ger­ia­trie und der Geron­to­lo­gie eine immer grö­ßer wer­dende Bedeu­tung zu. Das Ger­ia­trie­re­fe­rat der Öster­rei­chi­schen Ärz­te­kam­mer ist die Platt­form für Ger­ia­trie­an­lie­gen, die über die Län­der­re­fe­rate der Ärz­te­kam­mern oder direkt von Ärz­tin­nen und Ärz­ten, aber auch von ande­ren Berufs­grup­pen her­an­ge­tra­gen wer­den. Das Refe­rat sieht sich als Schnitt­stelle hie­für. Es ist die Kom­mu­ni­ka­ti­ons- und Infor­ma­ti­ons­platt­form für alle Berei­che der Ger­ia­trie für die öster­rei­chi­sche Ärz­te­schaft. Es ist wich­tig, natio­nale und inter­na­tio­nale Ent­wick­lun­gen im Auge zu behal­ten, zu ver­glei­chen, zu dis­ku­tie­ren und dar­aus Schlüsse zu zie­hen, um ein Altern in Würde mit Hilfe der medi­zi­ni­schen und der sozia­len Betreu­ung zu ermöglichen.

Aus­bil­dung

Das Ger­ia­trie­re­fe­rat will und muss ver­stärkt bei der Kon­zep­tion und Pla­nung der Aus- und Wei­ter­bil­dung auf dem Gebiet der Ger­ia­trie und Geron­to­lo­gie für alle Ärz­tin­nen und Ärzte mit­wir­ken. Es ist uns auch ein Anlie­gen, die Ger­ia­trie im universitären/​wissenschaftlichen Bereich zu eta­blie­ren und die Schaf­fung von Lehrstühlen/​Professuren für Ger­ia­trie und Geron­to­lo­gie an allen Uni­ver­si­täts­stand­or­ten zu for­dern.

The­men­be­rei­che

Der The­men­be­reich ist so kom­plex und viel­schich­tig, dass hier nur einige auf­ge­zeigt wer­den können:

  • Nie­der­ge­las­sene All­ge­mein­me­di­zi­ner als erste Ansprech­part­ner für ältere Men­schen müs­sen in die Ger­ia­trie­land­schaft des jewei­li­gen Bun­des­lan­des für die Bevöl­ke­rung sicht­ba­rer ein­ge­baut wer­den. Gene­rell müs­sen Mög­lich­kei­ten gebo­ten wer­den, die geriatrische/​gerontologische Kom­pe­tenz der nie­der­ge­las­se­nen Ärz­te­schaft zu optimieren.
  • Zu for­dern ist wei­ter der kon­se­quente Aus­bau der Abtei­lun­gen für Akut­ger­ia­trie ent­spre­chend des ÖSG 2006 mit der aktu­el­len Modi­fi­ka­tion. Dar­über hin­aus sollte die Ein­hal­tung der Struk­tur­qua­li­täts­kri­te­rien im Bereich der bereits bestehen­den Abtei­lun­gen über­prüft werden.
  • Die ärzt­li­che Betreu­ung in Alten- und Pfle­ge­hei­men und die Ent­wick­lung von medi­zi­ni­schen Qua­li­täts­stan­dards für den nie­der­ge­las­se­nen Bereich für die ärzt­li­che Betreu­ung bio­lo­gisch alter Men­schen sind The­men, mit denen sich das Ger­ia­trie­re­fe­rat inten­siv aus­ein­an­der­setzt.
  • Die ger­ia­tri­sche ärzt­li­che Betreu­ung muss mit einer leis­tungs­ge­rech­ten Ent­loh­nung ver­bun­den sein. Das Ger­ia­trie­re­fe­rat zeigt auf, wo adäquate Hono­rie­run­gen feh­len und for­dert diese ein.
  • Ein Anlie­gen ist auch die För­de­rung von wirk­sa­men bewusst­seins­bil­den­den Maß­nah­men, um der sta­tio­nä­ren Ärz­te­schaft auch außer­halb von spe­zi­el­len ger­ia­tri­schen Ein­rich­tun­gen die ger­ia­tri­sche und geron­to­lo­gi­sche Denk­weise näher zu brin­gen.

Ger­ia­tri­sche Landkarte

Um allen Ärz­ten die Mög­lich­keit zu bie­ten, die struk­tu­rel­len und orga­ni­sa­to­ri­schen Ent­wick­lun­gen im Ger­ia­trie­be­reich im eige­nen Bun­des­land und län­der­über­grei­fend ver­fol­gen zu kön­nen, soll eine jähr­lich zu aktua­li­sie­rende Infor­ma­ti­ons­bro­schüre über die ger­ia­tri­schen und geron­to­lo­gi­schen Betreu­ungs­mög­lich­kei­ten im Rah­men des nie­der­ge­las­se­nen und sta­tio­nä­ren Berei­ches in Öster­reich erstellt wer­den bezie­hungs­weise diese Infor­ma­tio­nen auf der Home­page der ÖÄK abruf­bar sein.

Über­ge­ord­nete Ziele

  • Stei­ge­rung des Ver­ständ­nis­ses und des Wis­sens für die Ger­ia­trie und Geron­to­lo­gie und Ein­bau in den medi­zi­ni­schen Alltag;
  • För­de­rung des nutz­brin­gen­den und wert­schät­zen­den Zusam­men­wir­kens zwi­schen den ärzt­li­chen Fach­rich­tun­gen und den bei der Betreu­ung von alten Men­schen betei­lig­ten Berufs­grup­pen;
  • Kon­struk­tive Betei­li­gung an der Ver­bes­se­rung der Betreu­ung alter Men­schen in Öster­reich.


© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 9 /​10.05.2010