Deutschland: Guter Rat ist teuer

15.08.2010 | Politik

Trotz zahlloser Reformen sieht das deutsche Gesundheitssystem immer älter aus. Unterfinanzierung, Entarztung und Patientenfrust bestimmen den Alltag. Zeit also, um heiße Eisen anzugreifen und Tabus zu brechen.
Von Martin Stickler

Jeder Regierung ihre Gesundheitsreform. Vor Jahrzehnten wurde unter dem mittlerweile als Ministerpräsident nach Bayern gewechselten Horst Seehofer zur gesundheitspolitischen Maxime erhoben, was seitdem jedes Bundeskabinett in stereotypen Pflichtübungen abdient. Doch die Legion an Erneuerungs-, Modernisierungs- und Stärkungsgesetzen zeitigt wenig respektable Ergebnisse. Bürokratisierung, Zentralisierung und indirekte staatliche Preisdiktate führten zu immanentem Patientenfrust und folgenschwerer ärztlicher Resignation. Fälle von Zwei-Klassen-Medizin beschäftigen Medien und Anwälte. Und die Bereitschaft der Ärztinnen und Ärzte, unter den gegebenen und erwarteten Bedingungen zu arbeiten, nimmt kontinuierlich ab.

40 Prozent der Jungärzte gehen nicht mehr in die direkte Patientenversorgung, berichtete der Präsident der deutschen Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, auf einer internationalen Tagung der deutschsprachigen Ärzteorganisationen im Juli im sommerlichen Kärnten. In den Lebensentwürfen der Nachwuchsmediziner hätten Marathondienste in den Spitälern keinen Platz mehr. Inhumane Arbeitsbedingungen, Überstunden, die ein Familienleben unmöglich machen, und der ökonomische Druck werden zu einer enormen Belastung. Gleichzeitig versperren das wirtschaftliche Risiko und die zunehmende Bedeutung von Haftungsfragen den Weg in die Niederlassung. Hoppe: „Der Verlust an Attraktivität des Arztberufes wirkt sich konkret auf das Niveau der
Versorgung aus.“

Sparen steht an oberster Stelle. Der Rotstift tobt, wie es den Finanziers und dem Management gefällt: Bei Zahl und Qualität des Personals, bei der Ausrüstung, bei der Wartung und bei der Hygiene. Der Trend zur Merkantilisierung hat öffentliche und private Krankenhäuser erfasst. Die Rationierung schleicht heimlich aber beständig durch die medizinische Versorgungslandschaft: „Der karitative Gedanke schwindet immer mehr. Patienten, die kein Geld bringen, müssen raus oder werden erst gar nicht aufgenommen“, klagt der deutsche Ärztepräsident.

Das zwischen kapitalistischer Verirrung und kasuistischer Unterwanderung unkontrolliert dahintorkelnde deutsche Gesundheitssystem ist daher folgerichtig wieder einmal erster Dressurkandidat auf dem bundespolitischen Parcours.

Eine Reform muss her, und zwar jetzt wirklich eine grundsätzliche – so hatten es die schwarz-gelben Koalitionäre vor wenigen Monaten noch einträchtig ins Regierungsprogramm gemeißelt. Doch die ursprüngliche Absicht einer radikalen Änderung der Finanzierung des Gesundheitswesens wurde offensichtlich ebenso in den Wind geschlagen, wie die Ankündigung des neuen frei-demokratischen Gesundheitsministers, Philipp Rösler, sein politisches Schicksal an die Einführung eines Kopfpauschales
zu binden.

Njet zum Kopfpauschale

Ursprünglich war im Koalitionsvertrag statt der bisher lohnorientierten Beiträge eine einheitliche Gesundheitsprämie von rund EUR 110,– pro Versichertem – unabhängig von einer Beschäftigung – vorgesehen, maximal jedoch sieben Prozent des Einkommens unter Berücksichtigung von Zinsen und Mieten. Der zusätzliche Arbeitgeberbeitrag sollte bei sieben Prozent des Bruttoeinkommens eingefroren und der soziale Ausgleich über die Einkommenssteuer erzielt werden. Trotzdem sahen Kritiker in diesem Modell bereits das Ende der solidarischen Mittelaufbringung für das öffentliche Gesundheitswesen, da eine „Kopfsteuer“ die finanzielle Leistungsfähigkeit außer Acht lasse und damit sozial schwache Menschen benachteilige.

Auf wenig Gegenliebe stießen auch die möglichen Vorteile der gesetzlich verordneten Einheitsprämie durch die Entkoppelung der Gesundheits- von den Arbeitskosten. Die nach ihren fulminanten Wahlverlusten schwer gebeutelte Seehofer-CSU ging koalitionsintern in Opposition. Als dann der Unions-Obmann ein kompromissloses ‚Njet’ von München gen Berlin donnerte, zerfiel das Kopfpauschale zu einem Häufchen Asche.

Übrig blieb ein für 2011 prognostiziertes Finanzierungsloch von elf Milliarden Euro bei einem stagnierenden Anteil der öffentlichen Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt von 6,1 Prozent. Aus der Not dieses in Zahlen gegossenen Lösungsbedarfes wurde in der Folge eine doch eher simple Erhöhung der Krankenkassen-Beitragssätze von 14,9 auf 15,5 Prozent geboren. Zusätzlich sollen die Sozialversicherungen bis zu zwei Prozent des Bruttoeinkommens einheben dürfen.

Lob für die nun vorgesehenen „Reform-Maßnahmen“ ist eher rar. Die deutschen Hausärzte befürchten trotz Beitragserhöhungen eine von Gesundheitsminister Rösler überlegte Begrenzung ihrer Honorare. Folge dieser Maßnahme wäre, dass „ein Landkreis nach dem anderen zusammenbrechen“ würde, weil keine jungen Ärzte mehr nachkämen, sagte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Hausärzteverbandes, Eberhard Mehl. „Diese Entscheidung wird viele Menschenleben kosten in der Region.“ Immerhin sieht ein Kommentar im Deutschen Ärzteblatt im Verhalten der schwarz-gelben Koalition eine mögliche Abkehr von der Kostendämpfungspolitik vorheriger Regierungen.

Neue Gesprächskultur

Während Insider allenthalben über die tieferen gesundheitspolitischen Absichten des Merkel-Kabinetts orakeln, wird auf anderer Seite ein Stilbruch sichtbar. Scheint doch Gesundheitsminister Philipp Rösler als Arzt mit der Ärzteschaft den Dialog dort zu suchen, wo bisher Funkstille herrschte. Mit den Inhalten seiner Rede vor dem deutschen Ärzteparlament Mitte Mai konnte er punkten, da er die Anliegen der Kolleginnen und Kollegen deutlich reflektierte. Man müsse auf die Bedürfnisse der Ärzte eingehen, die Feminisierung der medizinischen Welt in den Strukturen und der Arbeitsorganisation nachvollziehen, die freie, eigenverantwortliche Tätigkeit schützen und fördern.

Rösler sieht bei Grundsatzthemen wie etwa in der von Bundesärzte-Chef Hoppe stark forcierten Priorisierung – der Abstufung medizinischer Leistungen und Indikationen – ein Mittel gegen versteckte Rationierung. Der Ärztepräsident tritt in dieser Frage für einen offenen und intensiven gesellschaftlichen Diskurs im vorpolitischen Raum ein und verweist auf ein ganzes Bündel von „auseinanderklaffenden Scheren“: Da ist zum Beispiel der zunehmende Widerspruch „zwischen dem, was wir uns leisten können und dem, was wir bezahlen können“. Diskrepanzen sieht er auch in dem, was das Sozialrecht bietet und dem, was das Haftungsrecht fordert. Viele empfinden Hoppes Thesen als Provokation, streuen sie doch Salz in die offenen Wunden des deutschen Sozialstaates. Doch Verdrängen kann sich als Strategie hier nicht bewähren. Denn hinter den existenziellen Problemen des deutschen Gesundheitssystems warten gesellschaftlicher Frust und Entsolidarisierung.

Etwas banaler als die schwierige Auseinandersetzung mit der gerechten Verteilung des Mangels im Gesundheitswesen scheint hingegen die Frage, wie der Ärzteberuf in Deutschland wieder interessant gemacht werden kann. Schon wird an neuen Arbeitsmodellen gearbeitet, um die Anforderungen von Gesundheitseinrichtungen mit den Bedürfnissen der jungen Ärzte eher in Einklang zu bringen. Die Lockerung des Numerus clausus wird angedacht, soziale und persönliche Eignung sollen im Vordergrund stehen und nicht mehr der Abiturienten-Notenschnitt.

Entprofessionalisierung

Eine Waffe gegen die explodierende ärztliche Arbeitsbelastung durch Bürokratie und Arbeitsverdichtung sehen Experten in der gezielten Entprofessionalisierung. Ärztepräsident Hoppe: „Vor dem Hintergrund der therapeutischen Gesamtverantwortung des Arztes zielen wir auf das synergetische Zusammenwirken der verschiedenen Qualifikationen und Kompetenzen der Gesundheitsberufe. Das sei allemal klüger, als konkurrierende Parallelstrukturen aufzubauen.

Offensichtlich ist das deutsche Gesundheitssystem so weit in der Sackgasse, dass kein Eisen mehr zu heiß und kein Tabu zu sakrosankt ist.

Guter Rat ist also teuer. Denn immer mehr Ärzte hängen ihren Beruf an den Nagel und verschwinden auf Nimmerwiedersehen. Zurück bleiben Tausende freie Stellen in Spitälern und Niederlassungen. Deutsche Stellenangebote überschwemmen halb Europa und auch rund 2.000 junge österreichische Ärztinnen und Ärzte haben ihren Berufssitz bereits in den Nachbarstaat verlegt.

Dort werden sie umworben – hier müssten sie warten.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 15-16 / 15.08.2010