Deutsche Studie über Spitalsärzte: Harte Fragen, klare Antworten

25.06.2010 | Politik



Eine Studie aus Deutschland rüttelt auf: Sie belegt nämlich erstmals nach wissenschaftlichen Kriterien, dass Ärzte in chirurgischen Spitalsabteilungen unter enormen psychosozialen Belastungen arbeiten müssen, die auch negative Auswirkungen auf die Patientenversorgung haben.

Im Jahr 2008 unternahmen Soziologen*, unterstützt von der Hans-Böckler-Stiftung**, in Deutschland ein bis zu diesem Zeitpunkt einzigartiges Unterfangen: Wie das Deutsche Ärzteblatt° in seiner Ausgabe vom 9.4.2010 berichtet, wurden dafür – basierend auf einer geschichteten Zufalls-Stichprobe – in ganz Deutschland 1.311 chirurgisch tätige Krankenhausärzte aus 489 Krankenhäusern schriftlich zu ihrer Arbeitssituation befragt und deren Reaktionen ausgewertet. „Zielgruppe“ waren dabei hauptamtliche Ärzte in Allgemeinkrankenhäusern ab 100 Betten mit einer Fachabteilung für Chirurgie und/oder Gynäkologie beziehungsweise Geburtshilfe. Als wissenschaftliche Modelle wurden dabei das Anforderungs-Kontroll-Modell sowie das Modell der beruflichen Gratifikationskrisen (siehe Kasten) sowie zusätzliche Indikatoren herangezogen. Insgesamt wurden 922 Krankenhäuser um ihre Mitarbeit bei dieser Studie gebeten; der hohe Rücklauf von immerhin 53 Prozent lässt bereits Rückschlüsse auf die Dringlichkeit der
Problemstellung zu.

Ergebnisse

Etwa ein Viertel der chirurgisch tätigen Krankenhausärzte leidet unter einer beruflichen Gratifikationskrise, also einem Missverhältnis zwischen Verausgabung und Belohnung. Die Prävalenz ist bei Assistenzärzten mit und ohne Weiterbildung°° deutlich höher als bei Ober- und Chefärzten. Dabei sind nur geringe Unterschiede zwischen Frauen und Männern beziehungsweise den Fachabteilungen (Chirurgie, Gynäkologie/Geburtshilfe) zu beobachten. Zieht man detailliertere Ergebnisse der Studie heran, wird deutlich, dass Assistenzärzte ausschließlich bei Belohnungen – insbesondere bei der subjektiv empfundenen Angemessenheit des Gehalts und der Wertschätzung beziehungsweise Anerkennung – niedrigere Werte aufweisen als ihre höher gestellten Kollegen. Dem gegenüber neigen Chef- und Oberärzte eher zu übersteigerter beruflicher Verausgabung. Bei mehr als 22 Prozent der befragten Spitalsärzte liegt nach dem Anforderungs-Kontroll-Modell „Job Strain“ vor. Das heißt, die Ärzte sind mit hohen Anforderungen mit gleichzeitig niedriger Kontrolle konfrontiert. Dabei ist der Anteil bei Frauen im Vergleich zu Männern und bei Assistenzärzten im Vergleich zu Ober- und Chefärzten erhöht.

Qualitätsverminderung durch Stress

Knapp zwei Drittel (72 Prozent) der Befragten gaben an, durch den Beruf so stark beansprucht zu sein, dass sie zu müde sind, etwas mit dem Partner oder den Kindern zu unternehmen. Knapp 80 Prozent fühlen sich durch die berufliche Beanspruchung zu erschöpft, um sich noch persönlichen Interessen zuwenden zu können. Letzteres wurde besonders häufig von Frauen und Assistenzärzten beklagt.

Rund ein Fünftel der chirurgisch tätigen Spitalsärzte hatte bereits einige Male im Monat oder häufiger darüber nachgedacht, aufgrund der misslichen Arbeitsbedingungen in Deutschland ins Ausland zu wechseln. Und: Knapp die Hälfte der Befragten sehen die Qualität der Patientenversorgung „manchmal“ oder „oft“ durch Überarbeitung oder Zeitdruck beeinträchtigt. Diese Beeinträchtigungen werden übrigens häufiger von Frauen und Assistenzärzten wahrgenommen.

Macht der Vergleich sicher?

Im Vergleich mit der deutschen Erwerbsbevölkerung sind chirurgisch tätige Spitalsärzte „hoch belastet“, stellt die Studie fest. Vergleiche mit Studien aus anderen Ländern, die ebenfalls mit Ärzten durchgeführt wurden, zeigten ähnlich hohe Belastungswerte wie jene in Deutschland. Man kann also davon ausgehen, dass die Arbeit als chirurgisch tätiger Spitalsarzt sowohl das Risiko für psychosoziale Arbeitsbelastungen als auch für daraus resultierende gesundheitliche Beeinträchtigungen erhöht.

Gesundheitspolitische Implikationen

„Gesundheitspolitisch bedeutsam“, so die Studien-Autoren, ist der Befund eines Zusammenhangs zwischen psychosozialer Arbeitsbelastung und der subjektiv wahrgenommenen nicht optimalen Qualität der Patientenversorgung. Die Ergebnisse der Studie weisen darauf hin, dass eine stärkere Patientenorientierung und eine optimalere Versorgungsqualität an eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die Krankenhaus-Mitarbeiter gebunden sind. Solche Maßnahmen könnten etwa durch Maßnahmen zur Stressprävention oder die Weiterentwicklung der betrieblichen Gesundheitsförderung im Krankenhaus realisiert werden, heißt es im Befund der Studien-Autoren. Zu denken sei jedoch außerdem auch an Änderungen der Ablauforganisation: Dafür kommen neben innovativen Arbeitszeitmodellen auch eine Entlastung bei administrativen Tätigkeiten inklusive Dokumentation und die Delegation von ärztlichen Aufgaben an andere Spitalsmitarbeiter in Betracht. Das Modell der beruflichen Gratifikationskrisen legt zudem – insbesondere für Assistenzärzte – nahe, dass in Bezug auf Belohnungen neben dem Gehalt auch die Anerkennung und Wertschätzung durch Vorgesetzte und Kollegen besonders wichtig ist. RM

Fußnoten:
* Prof. Dr. phil. Olaf von dem Knesebeck, M.A. Klein, M.A. Grosse Frie (Insitut für Medizin-Soziologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf), Dr. P.H. Blum (Deutsches Krankenhausinstitut Düsseldorf), Prof. Dr. phil. Siegrist (Institut für Medizin-Soziologie, Heinrich
Heine-Universität Düsseldorf)
** www.boeckler.de
° www.aerzteblatt.de
°° Nach der Terminologie in Deutschland sind „Assistenzärzte mit Weiterbildung“ solche, die sich in einem bestimmten Fachgebiet weiterbilden, um Fachärzte zu werden. Um „Assistenzärzte ohne Weiterbildung“ handelt es sich, wenn diese in einem Fachgebiet arbeiten, ohne die Fachgebietsbezeichnung anzustreben.
Quelle: Deutsche Bundesärztekammer, Mai 2010

 

Methodik der Studie

In dieser Studie wurde auf zwei etablierte Modelle zur theoretischen Fundierung und Erfassung psychosozialer Arbeitsbelastungen zurückgegriffen:

Gemäß dem Anforderungs-Kontroll-Modell sind in Hinblick auf die Arbeitssituation zwei Dimensionen entscheidend, nämlich 1) Anforderungen, die an die arbeitende Person gestellt werden, 2) der Umfang von Kontrollchancen, die diese Person bei der Ausübung der Tätigkeit besitzt. Arbeiten, die durch die quantitative Kombination „hohe Anforderungen“ und „niedrige Kontrollmöglichkeiten“ gekennzeichnet sind, können chronischen Distress („Job Strain“) verursachen.

Ausgangspunkt des Modells beruflicher Gratifikationskrisen bildet das vertraglich gestaltete, auf die Norm sozialer Reziprozität beruhende Arbeitsverhältnis. Es wird postuliert, dass diese Norm unter bestimmten Bedingungen verletzt wird, indem hohe geleistete Verausgabung bei der Arbeit nicht mit entsprechenden Gratifikationen belohnt wird. Berufliche Gratifikationen umfassen Geld, Wertschätzung und Anerkennung, Aufstieg und Arbeitsplatz-Sicherheit. Erweitert wird das Modell durch die intrinsische Komponente der übersteigerten beruflichen Verausgabungsneigung. Hierbei handelt es sich um ein motivationales Muster, das eine unrealistische Einschätzung von Anforderung und Belohnung kennzeichnet und die psychosozialen Arbeitsbelastungen zusätzlich verstärken kann.

Interview – Vize-Präs. Harald Mayer

Aus österreichischer Sicht

Harald Mayer, Kurienobmann der Spitalsärzte der ÖÄK, nimmt für die ÖÄZ zu den Studienergebnissen aus Deutschland Stellung.

ÖÄZ: Denken Sie, dass sich die Ergebnisse dieser Umfrage hinsichtlich Job Strain und Gratifikationskrisen auf Österreich übertragen lassen?
Mayer: Ich kenne die Umfrage nicht im Detail, daher ist es schwierig zu beurteilen, ob sich die Ergebnisse 1:1 übertragen lassen. Aber grundsätzlich wird in Österreich die Situation wohl ähnlich gelagert sein wie in Deutschland.

Woran krankt es in dieser Beziehung in heimischen Spitälern besonders?
Die permanente Mehrbelastung durch administrative Arbeiten, ein Plus an Patienten außerhalb der normalen Arbeitszeit im ambulanten Bereich, und ein schnellerer Patientendurchsatz, der zu einer zunehmenden Arbeitsverdichtung für die Ärzteschaft führt, fordern die Ärzte in den Krankenhäusern phasenweise bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit und oft darüber hinaus.

Welche Maßnahmen könnten gesetzt werden, um die Situation der Ärzte in Krankenhäusern insgesamt vielleicht sogar kurzfristig zu verbessern?
Kurzfristig würde zum einen der Einsatz von Stationsassistenten beziehungsweise Stationssekretärinnen zu einer administrativen Entlastung der Ärzte führen. Zum anderen wären im Ausbildungsbereich delegierbare Arbeiten tatsächlich zu delegieren, etwa an die Gesundheits- und Krankenpflege.

Wie könnten Spitäler speziell auf die Situation von Ärztinnen – Stichworte: Doppelbelastungen, Kinderbetreuung – besser eingehen?
Die „Verweiblichung“ der Medizin wird dazu führen, dass wir uns viel intensiver als bisher mit Teilzeitmodellen, Teilzeitausbildungen, etc. beschäftigen und auseinandersetzen müssen, wenn man will, dass auch Ärztinnen die Möglichkeit haben, eine Familie zu gründen und Familie zu haben.

Könnten Sie sich vorstellen, seitens der ÖÄK eine solche Umfrage für Österreich zu initiieren, um dadurch harte Fakten und somit noch stichhaltigere Argumente für Ihre gesundheitspolitische Arbeit zu erhalten?
Wir werden im Juli 2010 den Teil der IFES-Umfrage präsentieren, der sich mit der Situation der Turnusärzte beschäftigt.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 12 / 25.06.2010