Arbeiten im Spital: Die silberne Revolution

25.04.2010 | Politik

Eine neue Arbeitskultur für die Spitäler fordert der deutsche Zukunftsforscher Erik Händeler: Es wird nicht möglich sein, auf die Expertise und die Arbeitskraft von älteren Spitalsärzten zu verzichten. Allerdings müssen sich die Rahmenbedingungen ändern.
Von Monika Berthold

Sie arbeiten bis zu 49 Stunden am Stück. Viele von ihnen sind ausgebrannt. Aber es gibt sie noch – die Spitalsärzte. Doch wie lange noch kann der Betrieb in den Krankenhäusern in vollem Umfang aufrecht erhalten werden? Prognosen sagen aufgrund der demographischen Entwicklung nicht nur einen explosionsartig steigenden Bedarf an Behandlung und Pflege voraus, sondern auch einen drohenden Ärztemangel. Tatsache ist, dass von den derzeit tätigen 16.400 österreichischen Spitalsärzten 25 Prozent zwischen 40 und 50 Jahre alt sind. In den nächsten zehn Jahren gehen 3.000 von ihnen in Pension. Damit geht nicht nur ein gewaltiges Quantum an täglicher Arbeitskraft, sondern auch ein ungeheurer Erfahrungsschatz verloren.

Das muss nicht sein, sagt der deutsche Zukunftsforscher Erik Händeler in einem Interview mit der Österreichischen Ärztezeitung. Was der Experte für eine Reform des gesamten Gesundheitswesens und das Wachstum eines Staates präsentiert, gilt in ganz besonderem Maße für die Zukunft des Spitalsbereiches. Seine Maxime: „Wir brauchen eine neue Arbeitskultur und wir brauchen die älteren Mitarbeiter. Wir werden es uns nicht leisten können, gute Kräfte mit 60 oder 65 in Pension zu schicken.“

Die demographische Entwicklung scheint ihm Recht zu geben. Laut dem deutschen Statistischen Bundesamt stehen derzeit – bezogen auf die Gesamtbevölkerung – 55,4 Prozent 20- bis 60-Jährige 26,3 Prozent über 60-Jährigen gegenüber. 2050 werden es 44,5 zu 40,4 Prozent sein. Nur elf Prozent der Älteren sind bereit, über das Pensionsalter hinaus beruflich weiter tätig zu sein – Verhältnisse, die in gleichem Maße auch für Österreich Gültigkeit haben.

Weniger Stress und weniger Stunden

Wie es gelingen kann, speziell im Spital Ärzte auch nach Erreichen des Pensionsalters zum Dienst zu motivieren, erklärt Händeler so: „Man muss ihnen Arbeitsbedingungen bieten, mit denen sie Lust aufs Weitermachen bekommen.“ Konkret heißt das: weniger Tage pro Woche, weniger Stunden hintereinander, so weit wie möglich Stressentlastung, größere Arbeitsflexibilität. Unter diesen Umständen, so geht aus einer Studie zur „Silbernen Revolution“ hervor, sind ältere Fachkräfte auch bei weniger Bezahlung bereit, weiterzuarbeiten. Auf der anderen Seite müssen, wie Händeler betont, auch die Ärzte bereit sein, umzudenken. Es wird notwendig sein, Möglichkeiten zu finden, die hierarchische Ordnung – Klinikchef, Oberarzt, Arzt in Ausbildung etc. – aufzubrechen. Der pensionierte Professor muss bereit sein, im Team zu arbeiten, „unter Umständen zwei Stufen tiefer als früher, ohne, dass ihm dabei ein Zacken aus der Krone fällt“.

So wird auch die jüngere Generation nicht darauf warten, dass der „Alte“ endlich abtritt. Der Senior hingegen fühlt sich nach wie vor gefragt und bedeutend, ist stolz darauf, seine Erfahrung weitergeben zu können. Er könnte es sogar als „Verjüngungskur“ betrachten, in einem verjüngten Team mitzuarbeiten und seinerseits von der Jugend über neueste technische Fortschritte informiert zu werden. Den Vorteil, den der Einsatz von älteren Arbeitnehmern für Betriebe bringt, hat die Wirtschaft schon längst erkannt: Ältere haben mehr Überblickswissen, mehr Intuition, bringen Stabilität und sind auch weniger abgelenkt durch private Probleme wie Hausstandsgründung, Eheprobleme oder Schwierigkeiten mit kleinen Kindern.

Ein Krankenhaus, das sich dieser Ressourcen bedient, gewinnt. Man stelle sich vor, wenn der „Alte“ Visite macht, sich für die Patienten Zeit nimmt, Ruhe verbreitet, den 40-jährigen Kollegen bei der Verwaltung unterstützt oder ein offenes Ohr für private Sorgen von Jungärzten und Pflegepersonal hat, dann könnte der tägliche Betrieb wesentlich erleichtert werden. Dass solche Visionen wahr werden, bedingt laut Händeler vor allem, dass die Gesundheit der Ärzte bis ins hohe Alter erhalten bleibt. Die derzeitigen Arbeitsbedingungen sind jedoch alles andere als fördernd für einen gesunden Lebensstil. Händeler: „Wir wissen um die Problematik mit Überlastung, Stress, Schlafmangel, Alkohol, Nikotin bis hin zum instabilen Privatleben und einer ständigen Job-Unsicherheit durch immer neue gesetzliche und wirtschaftliche Veränderungen. Da träumen viele nur noch von der Rente.“

Auch für Spitalsärzte muss die Möglichkeit zu mehr Regeneration und Durchatmen gegeben sein, fordert der Experte. Zum Beispiel durch ein halbes Jahr Karenzurlaub. „Man kann nicht ständig im Hamsterrad laufen und dabei topfit sein – und das womöglich 40 Jahre lang.“ Und hier schließt sich der Kreis. Die Spitalsärzte werden so lange ausgepowert, so lange es keine Erleichterung und Hilfe gibt. Die könnte jedoch mit der „silbernen Revolution“ Realität werden. Der Forscher auf die Frage, ob er glaubt, dass seine Visionen sowohl für den Spitalsbereich als auch für andere Bereiche der Wirtschaft verwirklicht werden können: „Es muss so sein, sonst fliegen uns die Gesundheitssysteme um die Ohren.“

Der springende Punkt der Zukunft sind laut Händeler neben einer neuen Arbeitskultur vorrangig Veränderungen zu einem gesünderen Lebensstil. Die Alten von morgen, so prophezeit er, werden in der Wissensgesellschaft ein anderes Berufsleben hinter sich haben als heutige Rentner. Sie werden ihre Kompetenzen bei weniger Arbeitslast und flexibleren Bedingungen in den Unternehmen länger einbringen, weil sie länger gesund sein werden. Im Übrigen stellt Händeler den Warnungen vor einem drohenden Ärztemangel Daten entgegen: „Wir haben heute doppelt so viele Ärzte als vor 30 Jahren. Und wenn wir alle gesünder leben, werden wir auch nicht mehr brauchen.“

Herausforderung Wissensgesellschaft

Waren einst Erfindungen wie die der Eisenbahn oder jene des Computers Motor von Wachstum und Produktivitätssteigerung, so liegt das Kapital der Zukunft im Wissen. Wertschöpfung, so erklärt Händeler in einer Publikation, ist nun hauptsächlich immateriell und bedeutet, planen, organisieren und Wissen finden, das man braucht, um ein Problem zu lösen. Damit wird nun jeder wertvoll, weil er allein der „König“ ist über das Wissen eines Fachgebietes oder eines Zwischenschrittes. In der Wissensgesellschaft wird es davon abhängen, wie gut es gelingt, die unterschiedlichen Fähigkeiten, Perspektiven und Erfahrungen von Mitarbeitern zu nutzen und zu verbinden. Das erzwingt direkte Zuarbeit und oftmals wechselnde Kollegen in verschiedenen Projekten statt Hierarchie und Gleichförmigkeit. Zusammenarbeiten in Teams erfordert bestimmte Kompetenzen, die sich in der Regel erst nach einer längeren Berufserfahrung herausbilden. Für Ältere ist das eine neue Chance, der „Wettbewerbsvorteil 55plus“: Mit ihrem Erfahrungswissen, fundierter Fachkenntnis sowie Stabilität und Kontinuität, ihren Kontakten und Kenntnissen formeller und informeller Strukturen machen sie in einem Team die Kraft der Jungen erst effizient. Ältere sichern außerdem Entscheidungen besser ab, schätzen Probleme realistischer ein – alles aus dem gesammelten Schatz eigener Niederlagen.

 

 

Zur Person

Erik Händeler, geboren 1969 in Wuppertal, ist Wirtschaftsjournalist, Trend- und Zukunftsforscher. Er studierte an der Universität München Wirtschaftspolitik, Volkswirtschaft und Kommunikationswissenschaft. Seit 1993 beschäftigt er sich wissenschaftlich mit der Theorie der langen Konjunkturwellen, den sogenannten Kondratieff-Zyklen. Der Theorie des russischen Ökonomen Nikolai Kondratieff zufolge entwickelt sich die Wirtschaft in langen Zyklen, an deren Beginn grundlegende technische Umwälzungen stehen. Nach seinem Studium war Händeler Redakteur beim Donaukurier in Ingolstadt, arbeitet seit 1997 auch als freier Journalist und Vortragender. Händeler ist Zukunftsreferent beim Zukunftsinstitut von Matthias Horx in Kelkheim. Er machte sich auch als Autor zahlreicher Bücher einen Namen. Unter anderem schrieb er „Kondratieffs Welt – Wohlstand nach der Industriegesellschaft“, „Die Geschichte der Zukunft“ und „Der Wohlstand kommt in langen Wellen“. Händeler ist verheiratet und Vater dreier Kinder.

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 8 / 25.04.2010