Altersgrenze für Kassenärzte: Nicht zum alten Eisen

10.04.2010 | Politik



Gibt es zwischen Sozialversicherung und Ärztekammer keine Einigung hinsichtlich Altersgrenzen bei Kassenärzten und Übergangsbestimmungen, sollen automatisch
alle Kassenverträge für über 70-Jährige enden. In der derzeit vorliegenden Form verstößt das Gesetz gegen EU-Recht.

Von Karin Rösel-Schmid*

Mit dem 4. Sozialrechtsänderungsgesetz hat der Gesetzgeber im Dezember 2009 handstreichartig eine Zwangspensionierung für circa 200 Kassenärzte eingeführt: Wenn sich Ärztekammer und Sozialversicherungen nicht bis zum 31.12.2010 über eine Altersgrenze für Kassenvertragsärzte und Übergangsbestimmungen für bestehende Verträge einigen, enden mit Jahresende automatisch die Einzelverträge all jener Kassenärzte, die das 70. Lebensjahr vollendet haben. Mit dieser Zwangsmaßnahme hat der Gesetzgeber die Österreichische Ärztekammer glatt getäuscht und in eine unmögliche Verhandlungsposition gebracht – denn welches Interesse hätten die Sozialversicherungsträger, sich mit der Ärzteschaft über Altersgrenzen und Übergangsbestimmungen zu einigen, wenn das Gesetz für den Fall der Nichteinigung automatisch ihre Maximalforderung erfüllt?

Ganz so einfach, wie man sich das im Gesundheitsministerium vorgestellt hat, wird es aber nun doch nicht gehen. Denn bei einem derart gravierenden Eingriff, wie er hier vorgenommen wird, haben auch die Gerichte mitzureden, und zwar: Erst im Jänner 2010 hat der Europäische Gerichtshof ein Urteil mit brisantem Inhalt erlassen: Auf dem Prüfstand war eine deutsche Gesetzesbestimmung, die für die Ausübung des Berufes als Vertrags-Zahnarzt ein Höchstalter von 68 Jahren vorsah. Der Gerichtshof hatte festzustellen, ob diese Bestimmung gegen die EU-Richtlinie 2000/78/EG über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf verstößt. 

Nach Meinung der europäischen Richter fällt eine solche nationale Bestimmung grundsätzlich in den Anwendungsbereich der einschlägigen Richtlinie und erfüllt eine Ungleichbehandlung wegen des Alters im Sinne der Richtlinie. Eine solche Maßnahme ist nur dann zulässig, wenn sie durch ein höherwertiges Ziel gerechtfertigt sowie in kohärenter Weise zur Zielerreichung geeignet, angemessen und erforderlich ist. Kohärent ist eine Regelung in den Augen des EuGH dann, wenn sie systemkonform und logisch aufgebaut ist und sich nicht durch Ausnahmebestimmungen selbst konterkariert. Als Ziele, die eine Altersgrenze für Ärzte rechtfertigen könnten, nennt der Gerichtshof einerseits den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und andererseits die Förderung der Beschäftigung jüngerer Ärzte.

Wenn die deutsche Regelung das Ziel verfolgen soll, die Patienten vor unmittelbaren Gesundheitsschäden aufgrund der angenommenen geringeren Leistungsfähigkeit älterer Ärzte zu schützen, wird dieses Ziel durch die deutsche Regelung nicht in kohärenter Weise verfolgt. Der Gerichtshof verweist darauf, dass die Altersgrenze nur für Vertrags-Zahnärzte, nicht jedoch für privatärztlich tätige Zahnärzte gilt. Die Patienten wären also im privatärztlichen Bereich einer allfälligen Gesundheitsgefährdung unvermindert ausgesetzt. Eine Regelung, deren Ausnahmen so weit gefasst sind, dass sie das Regelungsziel untergraben, ist jedoch EU-rechtlich nicht zulässig. Diese Argumentation ist unmittelbar auf die österreichische Rechtslage zu übertragen, da auch hierzulande die Altersgrenze nur für Vertragsärzte, nicht jedoch für privatärztlich tätige Ärzte gilt.

Ein weiteres Ziel, das eine Altersgrenze für Ärzte rechtfertigen könnte, wäre die Wahrung des finanziellen Gleichgewichts des öffentlichen Gesundheitssystems. Indem das Angebot an Ärzten reduziert wird, sinken auch die öffentlichen Gesundheitsausgaben – ein Ziel, das die europäischen Richter grundsätzlich anerkennen. In Hinblick auf die Situation in Deutschland kommt der EuGH auch tatsächlich zum Schluss, dass dieses Ziel die Altersgrenze für Vertragszahnärzte rechtfertigt. Die Tatsache, dass privatärztliche Leistungen auch von älteren Zahnärzten erbracht werden dürfen, stört in diesem Fall nicht, denn privatärztliche Leistungen stellen für das deutsche Gesundheitssystem keine Kostenbelastung dar.

In Österreich ist die Rechtslage jedoch anders: Hier haben auch die von Wahlärzten erbrachten Leistungen aufgrund der Kostenrückerstattung durch die Krankenversicherungsträger unmittelbare finanzielle Auswirkungen auf das System der sozialen Sicherheit. Das österreichische Gesetz ist also inkohärent, wenn es ein Überangebot an Vertragsärzten zwar im Kassenbereich eindämmt, im privatärztlichen Bereich aber unvermindert zulässt. Eine Regelung, die ihr eigenes Ziel solcherart untergräbt, ist nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht zulässig und verstößt gegen EU-Recht.

In Kenntnis dieser Probleme hat nun der österreichische Gesetzgeber versucht, die Altersgrenze für Ärzte als beschäftigungspolitische Maßnahme darzustellen, die jüngeren Ärzten den Zugang zur Berufsausübung im Kassensystem ermöglichen soll. Eine solche Maßnahme könnte nach der EU-Gleichbehandlungsrichtlinie gerechtfertigt sein, wenn es nachweislich deutlich mehr Ärzte gibt, welche die Voraussetzungen für einen Kassenvertrag erfüllen, als der Zahl der vorhandenen Kassenplanstellen entspricht, und wenn junge Ärzte aufgrund dieses Missverhältnisses nur schwer Zugang zu kassenärztlichen Tätigkeiten bekommen. Da die einschlägige Gesetzesbestimmung unspezifisch für alle Ärzte gilt, müsste ein bestehendes oder drohendes Überangebot an Ärzten sowohl bei Ärzten für Allgemeinmedizin als auch bei Fachärzten aller oder der meisten Fachrichtungen in weiten Teilen des österreichischen Bundesgebiets bestehen.

Für einen solchen generellen Ärzte-Überschuss fehlt allerdings jeder Hinweis. Auch der Gesetzgeber bleibt einen Beweis schuldig, sondern stellt nur die lapidare Behauptung auf, die Regelung solle „den Generationswechsel fördern und einen gerechten Ausgleich zwischen bereits in Vertrag genommenen Personen und jenen jungen, die sich um eine Zulassung bemühen, schaffen“.

Zu solchen Maßnahmen findet der Gerichtshof in Luxemburg allerdings klare Worte: Allgemeine Behauptungen, dass eine bestimmte Maßnahme geeignet sei, der Beschäftigungspolitik zu dienen, genügen demnach nicht, um darzutun, dass das Ziel dieser Maßnahme eine Ausnahme vom Gleichbehandlungsgrundsatz rechtfertigen könne, und lassen nicht den Schluss zu, dass die gewählten Mittel zur Verwirklichung dieses Ziels geeignet seien. Nach den der ÖÄK vorliegenden Daten trifft es jedoch nicht zu, dass eine ganze Generation an jungen Ärzten in Warteposition steht, die keinen Zugang zur Tätigkeit als Kassenarzt bekommt. Ganz im Gegenteil: Der Altersdurchschnitt der – potentiell für eine Kassenstelle in Frage kommenden – Ärzte ohne Kassenvertrag und ohne Angestelltenverhältnis liegt bei 50 Jahren. Von einem anstehenden Generationenwechsel kann also keine Rede sein. In der derzeit vorliegenden Form des Gesetzes verstößt es daher mit Sicherheit gegen EU-Recht. Österreich riskiert mit dieser Bestimmung ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH und Schadenersatzklagen von betroffenen Ärzten. Überdies ist diese Gesetzesbestimmung auch nach dem österreichischen Verfassungsrecht hoch problematisch. Ärzten die – oft erst im Alter von 40 Jahren oder später – einen Kassenvertrag erhalten, inzwischen seit Jahren vertragsärztlich tätig waren und auf ihre Rechtsposition vertrauen konnten, verlieren an einem bestimmten Stichtag ohne Übergangsregelung schlagartig die Möglichkeit, weiterhin im Kassensystem tätig zu sein. Solche schwerwiegenden und plötzlichen Eingriffe in Rechtspositionen, auf deren Bestand die Betroffenen mit guten Gründen vertrauen durften, stellen nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs einen Eingriff in die sogenannten wohlerworbenen Rechte der Betroffenen dar. Öffentliche Interessen können solche Eingriffe zwar rechtfertigen, sie müssen aber dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Dabei ist auch darauf Bedacht zu nehmen, wie nahe die Betroffenen dem Zeitpunkt sind, zu dem der Eingriff wirksam wird, und inwieweit sie noch die Möglichkeit haben, sich – auch in wirtschaftlicher Hinsicht – darauf einzustellen. Eine Vorschrift wie die Altersgrenze für Kassenärzte, die ohne jede Übergangsbestimmung zu einem in naher Zukunft liegenden Stichtag wirksam wird, wird der Prüfung durch den Verfassungsgerichtshof mit Sicherheit nicht standhalten.

Eine Sanierung der Rechtslage wäre nur möglich, indem für jede Arztgruppe und jede Region konkret beurteilt und belegt wird, ob und in welchem Ausmaß ein Überangebot an Ärzten besteht, und dementsprechend zielgerichtete Maßnahmen getroffen werden. Solche Maßnahmen können nicht bundesweit und für alle Ärzte einheitlich erfolgen, sondern müssen auf Ebene der Bundesländer spezifisch festgelegt werden. Dazu sind naturgemäß die Gesamtvertragspartner berufen, denn sie sind es, die die notwendigen Daten und den Überblick über das Angebot an geeigneten (Jung-)Ärzten einerseits und den Bedarf der Bevölkerung andererseits haben. Dabei wird es vor allem auch wichtig sein, vernünftige Übergangsbestimmungen für bereits bestehende Kassenverträge vorzusehen, um die wohlerworbenen Rechte älterer Ärzte zu schützen. Mit einer – noch dazu EU-rechtswidrigen – Gesetzesbestimmung im Hintergrund, die jede Einigung vorweg verhindert, wird dies jedoch kaum gelingen. Die Österreichische Ärztekammer bereitet daher eine Beschwerde an den Verfassungsgerichthof vor, um das Gesetz zu Fall zu bringen und das Terrain für eine korrekte, sozialpartnerschaftliche Lösung aufzubereiten.

Gleichzeitig drängt die ÖÄK sowohl das Gesundheitsministerium, das diese
Situation zu verantworten hat, als auch den Gesetzgeber darauf, im Zuge der bereits anstehenden nächsten ASVG-Novelle eine Sanierung dieser missglückten Bestimmung vorzunehmen.

*) Mag. Karin Rösel-Schmid ist Juristin in der Österreichischen Ärztekammer

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 7 / 10.04.2010