Schmerzstörung aus psychiatrischer Sicht: Wenn Schmerz zur Krankheit wird

10.09.2010 | Medizin

Schmerzstörung aus psychiatrischer Sicht

Im Fall einer Chronifizierung der Schmerzen ist die ursprüngliche Warnfunktion aufgehoben und das Symptom „Schmerz“ wird selbst zur Krankheit. Wichtig ist in jedem Fall, Schmerz als diesen anzuerkennen und nicht nur als „Einbildung“ abzutun.
Von Eveline Hecher

Im Gegensatz zu früher werden Schmerzen heutzutage nicht mehr klassisch in einen körperlichen oder psychischen Schmerz unterteilt, sondern viel eher als eine Einheit gesehen. So handelt es sich bei einem Schmerz immer um etwas psycho-somatisches, da immer sowohl sensorische, als auch emotionale Komponenten eine Rolle spielen. Einziger Unterschied ist die Gewichtung: Während bei manchen Patienten die sensorische Komponente im Vordergrund steht, dominiert bei anderen die emotionale. Dennoch sieht man auch anhand kleinerer Verletzungen mit dazugehörigen Schmerzen, dass eine emotionale Dimension immer dabei ist. „Beim Schlag auf den Finger merkt man über die sensorische Komponente, dass dieser vielleicht gequetscht wurde, man ist aber gleichzeitig auch emotional ergriffen“, erklärt Univ. Prof. Martin Aigner von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien.

Hätte Schmerz nur einen sensorischen Anteil, wie es beispielsweise bei den Empfindungen „Kälte“ oder „Wärme“ sowie diversen Farbeindrücken der Fall ist, reagiert man emotional nicht. Wichtig für eine weiterführende, möglichst individuell gestaltete, Schmerztherapie ist auch die Unterscheidung, um welche Art von Schmerz es sich handelt: Bei einem akuten Schmerz wird die emotionale Rolle eher im Hintergrund angesiedelt sein, während vor allem bei chronischen Schmerzen der sensorische Anteil weniger Gewicht hat. „Ein chronischer Schmerz ist definiert durch eine Dauer von mehr als drei Monaten, in denen es ohne Unterbrechung beziehungsweise rezidivierend zu Schmerzepisoden kommt“, erklärt Univ. Prof. Michael Bach, Leiter der Psychiatrischen Abteilung im Krankenhaus Steyr. Bei einer derart langen Schmerzdauer geht man auch davon aus, dass sich der Schmerz nach einiger Zeit sozusagen sogar „verselbstständigt“ hat. Die schmerzhafte Empfindung löst sich dabei von der eigentlichen Ursache, wobei letztgenannte gar keine auslösende Rolle mehr spielt. Außerdem treten Chronifizierungsfaktoren in den Vordergrund, was sich in psychosozialen und körperlichen Folgen äußert. „Bei länger dauernden frustranen Schmerztherapien entwickeln die Menschen schließlich auch Depressionen und Angststörungen“, erklärt der Experte weiter. Dadurch können aber die Schmerzen sogar weiter verstärkt werden. Unter Schmerzstörung versteht man schließlich einen chronischen Schmerz, für den es keine medizinisch ausreichende Erklärung gibt. Der Begriff somatoforme Schmerzstörung ist schließlich über einen subjektiv empfundenen Schmerz über sechs Monate definiert, der jedoch nicht ausreichend organisch oder pathophysiologisch erklärt werden kann, aber schwerwiegende psychische und emotionale Belastungen mit sich bringt. Eine chronische Arthritis mit Schmerzen allein würde hingegen für die Diagnose somatoforme Schmerzstörung nicht ausreichen. „Wörtlich bedeutet somatoform, dass es wie körperlich (organisch) scheint, man aber nichts findet“, erklärt Bach.

Das Problem bei chronischen Schmerzen ist vor allem, dass die ursprüngliche Warnfunktion des Schmerzes verloren gegangen ist, und so der Schmerz selbst zur Krankheit wird. Für die Therapie in solchen Fällen ist vor allem zu beachten, dass Schmerz etwas Subjektives ist und keinesfalls als Einbildung des Patienten abgetan werden soll. „Man kann die Schmerzen des anderen nur durch dessen Schmerzverhalten empathisch nachempfinden“, so Aigner. „Vor allem geht es darum, mit dem Fehlsignal Schmerz umzugehen.“

Schmerzunterscheidung

Es gibt Schmerzen mit einer offensichtlichen äußeren beziehungsweise sichtbaren Ursache, aber auch Schmerzen, die von einem anderen Ursprung weiter projiziert werden. Beispielsweise können Schmerzen im Knie auch durch eine Beeinträchtigung im Gehirn entstehen, wie beispielsweise durch einen Insult im Thalamus. Auch durch traumatische Ereignisse kann ein Schmerz in eine andere Region projiziert werden. Patienten mit somatoformen Schmerzstörungen zeigen wiederum keine organischen Ursachen: Die Patienten leiden jedoch mehr als vergleichsweise chronische Schmerzpatienten, was besonders zu häufigen Arzt-Konsultationen führt. Typisch für somatoforme Schmerzen ist auch, dass sich der angegebene Schmerz nicht an anatomische Grenzen hält, wie es im Gegensatz dazu ein durch einen Discusprolaps verursachter Schmerz tut. Auffällig sind auch wandernde Schmerzen. Häufig findet man in der Vorgeschichte dieser Patienten schwerwiegende seelische Belastungen oder Traumatisierungen, wie tragische Verlusterlebnisse oder Folter. Einen typischen Schmerz für eine somatoforme Störung gibt es nicht; er kann an jeder Stelle im Körper auftreten. Bei psychosomatischen Schmerzen erreicht die sogenannte ‚Simultandiagnostik’, bei der gleichzeitig körperliche und psychosoziale Faktoren abgeklärt werden, einen besonderen Stellenwert.

Wichtig für eine optimale Schmerztherapie ist vor allem die grundsätzliche Unterscheidung zwischen akutem und chronischem Schmerz. Aber auch die individuelle Gewichtung der Schmerzen: Steht beispielsweise die anfangs erwähnte emotionale Komponente im Vordergrund, ist anders vorzugehen als bei einer vor allem sensorisch dominierenden. „Die Patienten sollen vor allem zum Experten der eigenen Schmerzen werden“, erläutert Aigner. Schmerzpatienten sollen gut einschätzen können, welcher Teil die emotionale Komponente ist und welcher die sensorische. Dabei ist Flexibilität gefragt: Die beste Chance, chronische Schmerzen zu vermeiden, haben nämlich vor allem jenen Patienten, die flexible Coping-Strategien haben. Diese Personen schonen sich, wenn die sensorische Schmerzkomponente vordergründig ist, werden aber umso aktiver, wenn die emotionale Komponente überwiegt. Patienten, die entweder nach dem Motto „ein Indianer kennt keinen Schmerz“ leben, oder Patienten, die bagatellisieren, neigen erst recht zur Schmerz-Chronifizierung. Auch Personen, die aufgrund von Schmerzen nur mehr inaktiv sind, sind gefährdet. Die körperliche Fitness soll jedenfalls erhalten werden. Nimmt diese durch falsch angewandte Inaktivität ab, neigt man erst recht zu chronischen Schmerzen. Beide Entitäten sollen also im Sinne eines bio-psychosozialen Modells beachtet und behandelt werden.

Strategien

Bei akuten Schmerzen, bei denen die emotionale Komponente in den Hintergrund rückt, eignet sich natürlich eine kausale Therapie, bei der Psychotherapie keine Rolle spielt. Für chronische Schmerzstörungen nehmen sowohl die medikamentöse, als auch Physio- und Psychotherapie einen wichtigen Stellenwert ein. Medikamentös kommen sämtliche Schmerzmedikationen nach dem WHO-Stufenplan in Frage, aber auch Antidepressiva oder Neuroleptika. Zu beachten ist nämlich, dass zwei Drittel aller chronischen Schmerzpatienten eine Depression aufgrund der Schmerzen entwickeln oder bereits davor an einer Depression gelitten haben. Besonders geeignet bei Schmerzpatienten sind vor allem duale Antidepressiva, die über das serotonerge als auch noradrenerge Transmittersystem wirken, da beide Systeme über absteigende Rückenmarksbahnen schmerzdämpfend wirken. Die Behandlung von psychosomatischen Schmerzen kann neben medikamentöser und Psychotherapie auch durch Kreativtherapien wie Musiktherapie oder Kunsttherapie ergänzt werden.

Den Experten ist jedenfalls wichtig, davon abzukommen „Schmerz als Einbildung“ zu sehen, vor allem wenn keine körperlichen Befunde fassbar sind. „Jeder Schmerz hat nämlich eine Ursache, auch wenn ich nichts finden kann“, erklärt Bach. Ein guter Vergleich dazu ist Hunger: Auch Hunger hat mit dem Körper zu tun, aber kein Röntgenbild oder Laborbefund kann ihn diagnostizieren. So wie Hunger, haben Schmerzen mit dem Körper beziehungsweise der Psyche zu tun, auch wenn der Nachweis dafür fehlt.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 17 / 10.09.2010