Postoperative kognitive Dysfunktion: Narkose: je kürzer, umso besser

25.03.2010 | Medizin

Speziell bei älteren, multimorbiden Patienten sollten keine langwirksamen Narkotika verwendet werden, um so das Risiko für eine postoperative kognitive Dysfunktion so gering wie möglich zu halten. Die Ursachen dafür sind noch nicht restlos geklärt.
Von Monika Berthold

Um es gleich vorweg zu nehmen: Gedächtnisprobleme nach operativen Eingriffen sind nicht mehr, sondern weniger geworden“, erklärt der Leiter der Universitätsklinik für Anästhesie am Wiener AKH, Univ. Prof. Dr. Michael Hiesmayr. In den letzten zehn bis 15 Jahren hat sich viel geändert. Hat man etwa in den 1990er Jahren nach herzchirurgischen Eingriffen noch bei 53 Prozent der Patienten kognitive Störungen festgestellt, so liegt die Quote derzeit bei etwa 30 Prozent, berichtet der Experte. Hiesmayr bucht die Erfolge vor allem auf das Konto neuer Errungenschaften der Anästhesie-Technik: besser verträgliche und leichter steuerbare Medikamente, exaktere Überwachung und Einstellung der Narkosetiefe sowie der globalen und zerebralen Sauerstoffversorgung und der CO2-Reaktivität der Hirngefäße, bettseitige Überwachungsmöglichkeiten von gewissen Blutwerten und damit eine raschere Korrektur bei Entgleisungen. Der Eindruck, es gäbe mehr Gedächtnis-Komplikationen entsteht nach Meinung des Experten dadurch, dass die Patienten aufmerksamer geworden sind und über ihre Probleme offener sprechen als noch vor wenigen Jahrzehnten. Dazu kommt, dass noch nie so viele hochbetagte und multimorbide Menschen operiert wurden, bei denen das Risiko naturgemäß höher liegt.

Auf die Frage, welchen Einfluss Narkosemittel auf die kognitive Funktion nach Vollnarkosen haben, antwortet Univ. Prof. Martin Dworschak, der sich am Wiener AKH wissenschaftlich mit Fragestellungen der perioperativen Neuroprotektion beschäftigt, folgendermaßen: „Obwohl Narkosetechniken seit dem Altertum bekannt sind, weiß man bis heute noch nicht über alle Details der Wirkungsweise der verwendeten Anästhetika Bescheid. Dank neuester Forschungen bekommen wir aber immer mehr Einblick in diese vielschichtige Materie“.

Im Prinzip kommt es bei der Allgemeinanästhesie mit der Gabe von Anästhetika und Opiaten zu einer Ausschaltung des Bewusstseins (Hypnose), des Schmerzempfindens (Analgesie) sowie gewisser vegetativer Funktionen. Die Allgemeinanästhesie ist weder mit der Ohnmacht noch mit dem natürlichen Schlaf vergleichbar, sondern ein eigener Zustand des Nichtempfindens und des Nichtwahrnehmens. Aufgrund der Einwirkung von anästhetischen Substanzen auf Ionenkanäle der Nervenzellen respektive auf die neuronale Kommunikation bewirken sie entweder eine abgeschwächte Weiterleitung stimulierender oder aber eine Potenzierung hemmender Impulse. Diese verschlechterte Vernetzung zerebraler Neurone lässt sich mittels Spektralanalyse des EEGs nachweisen womit – abgesehen von den bekannten narkosetypischen Veränderungen von Puls und Blutdruck – eine Bestimmung der Narkosetiefe innerhalb der Grenzen des Verfahrens möglich wird. Obgleich man glauben könnte, dass Narkosemittel infolge dieser Interaktion mit zerebralen Verarbeitungsprozessen eine maßgebende Bedeutung für das Zustandekommen von neurokognitiven Defiziten haben, zeigte sich in Studien, dass die Häufigkeit dieser Defizite nach Operationen, die in Lokalanästhesie durchgeführt wurden, nur unwesentlich niedriger ist. Dworschak: „Der Erforschung der postoperativen kognitiven Dysfunktion kommt ein erheblicher Stellenwert zu, da sie nicht nur belastend für den Patienten ist, sondern auch erhebliche sozioökonomische Auswirkungen hat. Obwohl die Ursachen des kognitiven Defizits noch nicht komplett geklärt sind, wissen wir schon eine ganze Menge über prädisponierende Faktoren. Man unterscheidet dabei Faktoren, die der Patient, beispielsweise aufgrund von spezifischen Vorerkrankungen mitbringt und intra- sowie postoperative Faktoren. Mittels präoperativer Optimierung des psychischen und physischen Zustandes des Patienten und Beachtung entsprechender Einflussgrößen während und nach dem Eingriff kann das Auftreten von Gedächtnisproblemen positiv beeinflusst werden.“

Die anästhesiologische Versorgung orientiert sich an der individuellen Vorgeschichte des Patienten ebenso wie an der geplanten Operation und den möglichen Problemen, die während des Eingriffs und danach auftreten können. Die richtige Abstimmung und das Wissen um Interaktionen ist ein nicht unerheblicher Part, um prophylaktisch dem Zustandekommen kognitiver Defizite entgegenzuwirken, erklärt Dworschak.

Die Ursachen für kognitive Probleme nach operativen Eingriffen sind – wie die Erfahrung zeigt – vielfältig. Im Rahmen von kardiovaskulären und orthopädischen Eingriffen werden beispielsweise zerebrale Embolien durch Einschwemmung von Luft-, Fett- oder Zementpartikeln angeschuldigt. Dabei kommt es zu einer temporären Mangeldurchblutung von mikroskopisch kleinen Gehirnarealen. Selbst extrem kurzfristige Kreislaufstillstände, die induziert werden, um beispielsweise implantierbare Defibrillatoren auszutesten, können sich auf die kognitive Funktion der Patienten auswirken. „Wie wir anhand von Blutmarkern beobachten konnten, kommt es selbst bei diesen kurzfristigen globalen zerebralen Minderdurchblutungen zu einem Untergang von Nervenzellen“, berichtet Dworschak. Dies könnte das anatomische Korrelat für die ebenfalls nach der Defibrillator- Implantation beobachtete verminderte Leistung bei bestimmten neurokognitiven Tests sein. Dass Neuronen nach solchen Episoden neu gebildet werden, ist eher eine Rarität, betont der Forscher. Im Allgemeinen übernehmen andere Nervenzellen die Funktion der zugrunde gegangenen Neuronen, ein Vorgang, der unter dem Begriff „Neuroplastizität“ zusammengefasst wird. Außerdem zeigte sich, dass es im Rahmen der Ischämie zur Freisetzung von Triggersubstanzen kommt, die ebenfalls Auswirkungen auf die Gehirnaktivität haben können. Dworschak dazu: „Die heutzutage verwendeten Anästhetika sind in aller Regel kurz wirksam und damit gut steuerbar. Sie gelten bei Beachtung der spezifischen Kontraindikationen generell als sehr sicher. Unsere neue Herausforderung ist vielmehr, dass die Patienten immer älter und die Eingriffe immer komplexer und zuweilen auch ausgedehnter werden, was die Gabe von Bluttransfusionen häufig unumgänglich macht.“ All diese Faktoren können ihrerseits zu neurokognitiven Störungen in der postoperativen Phase beitragen.

Auch bei Kleinkindern kann es nach langen oder mehreren Narkosen zu Verhaltensstörungen und kognitiven Dysfunktionen bis zu späteren Lernschwierigkeiten in der Schule kommen. Wie Hiesmayr dazu feststellt, handelt es sich in der Mehrzahl um Kinder mit kardialen Fehlbildungen, bei denen es durch diese angeborene Erkrankung vom ersten Lebenstag an zu einer verminderten Sauerstoffversorgung des Gehirns kommen kann. Dazu kommt, dass durch die Errungenschaften der Medizin immer mehr extrem Frühgeborene erfolgreich überleben, wobei allerdings eine eingeschränkte psychomotorische Funktion bestehen kann. Die Beurteilung von Veränderungen durch die Operation ist praktisch nicht möglich, da man kognitive Fähigkeiten bei Kindern im ersten Lebensjahr nicht sehr präzise überprüfen kann. Bei der Erforschung dieser Thematik setzt die Wissenschaft vor allem auf das bildgebende Monitoring. „Aber eines konnten wir beobachten: Kinder haben viele kompensatorische Möglichkeiten, die oft in Erstaunen versetzen“, ergänzt Hiesmayr.

Die Rolle der niedergelassenen Ärzte und vor allem der Hausärzte bei geplanten Operationen ist gar nicht hoch genug einzuschätzen, erklären die Experten unisono. In ihrer Hand liegt die Abklärung des präoperativen Gesundheitszustandes, die OP-Vorbereitung im Hinblick auf Korrektur vorliegender Schäden (Diabetes, Blutdruckprobleme etc.) sowie die Information der Patienten über den kommenden Eingriff bis hin zu Maßnahmen, die beruhigen und die Angst reduzieren sollen. In gleichem Maß sind sie in Zusammenarbeit mit den Spezialisten für postoperative Therapien bei kognitiven Problemen zuständig. 

Forschungsschwerpunkt Gedächtnisproblem

Martin Hauk, Facharzt für Neurologie und Anästhesist, der sich am Wiener AKH – ebenso wie Dworschak – mit einschlägigen wissenschaftlichen Untersuchungen beschäftigt, bezeichnet die postoperative kognitive Dysfunktion als „Komplikation, die wir nicht auf die leichte Schulter nehmen“. Im Gegenteil, sie ist zu einem Forschungsschwerpunkt geworden. Allein in der englischsprachigen Meta-Datenbank „PubMed“ ist die Anzahl der Publikationen zum Thema zwischen 1980/81 und 2002/2003 von fünf auf 160 angewachsen und in der Folge weiter deutlich im Steigen. „Aber wir stehen dem Problem nicht mehr ganz hilflos gegenüber“, betont Hauk. Er verweist dabei auf die besondere Bedeutung der exakten Anamnese vor der Operation. Auf dieser Grundlage erarbeiten die Ärzte ein vorbereitendes Management, das die Korrektur von metabolischen Störungen (Blutdruck, Blutzucker, Cholesterin …) genauso umfasst wie die Dokumentation vorbestehender Hirnschädigungen etwa nach Schlaganfällen oder die Auflistung der Dauermedikation im Hinblick auf die bereits oben genannte Interaktion mit Narkoseund Schmerzmittel.

Was die Phase der Operation selbst und die Wahl des Anästhesieverfahrens anlangt, verweist Hauk auf eine ganze Reihe von Forschungsergebnissen, bei denen die neuroprotektive oder schädigende Wirkung von verschiedenen Substanzgruppen wie Benzodiazepinen, Barbituraten, Inhalationsanästhetika oder Anticholinergika überprüft wurden. Ergebnis: Speziell bei älteren, multimorbiden Patienten sollten keine langwirksamen Narkotika verwendet werden. „Es zeigte sich, dass gut steuerbare, kurz wirksame Mittel wie Midazolam, Propofol und Remifentanyl etc. zur Hypnose und Analgesie besonders geeignet sind. Je weniger unterschiedliche Medikamente aus unterschiedlichen Substanzklassen gegeben werden und je rascher die Elimination dieser Stoffe aus dem Körper erfolgt, desto besser. Das hat etwas mit der Halbwertszeit zu tun. Je rascher das Narkotikum abgebaut werden kann, umso besser fürs Gehirn“, so Hauk.

Studien an neurochirurgischen Patienten ergaben, dass eine rasche Ausleitung nach Allgemeinanästhesie zu einer deutlich geringeren mentalen und metabolischen Belastung der Patienten führt. Generell könne man sagen, dass je erfahrener der Operateur, je leichter der Eingriff ist und je rascher dieser durchgeführt wird, umso geringer die Belastung auch im kognitiven Bereich ist. Mit der Länge der Operation und der Schwere des Eingriffs steigt das Risiko.

Angesprochen auf die Vielfalt von postoperativen Gedächtnisproblemen meint Hauk: „Sie reichen von Schläfrigkeit und Verwirrtheit unmittelbar nach dem Ende der Operation bis zu Halluzinationen und Delirium, können aber auch zu irreversiblen Störungen des Lang- wie des Kurzzeitgedächtnisses sowie zu Wesensveränderungen führen.“ Hauk weiter: „Wichtig ist, dass man gleich etwas unternimmt.“ Dazu stehen jetzt auf der Basis von wissenschaftlichen Studien erarbeitete Tests zur Verfügung, mit denen festgestellt werden kann, um welche neuropsychologischen Defizite es sich handelt. Eine weiterführende Bildgebung und bei Bedarf neurologische und psychiatrische Untersuchungen können einzelne spezifische Krankheitsbilder diagnostizieren und somit einen therapeutischen Ansatz liefern. Die Tests sollten rasch, am besten unmittelbar nach der Operation geschehen. Zu diesem Zeitpunkt kann man, wie der Experte versichert, viel tun, um Schäden zu vermeiden. Umso mehr als zur Behandlung von Gedächtnisproblemen heute ganz neue, gut wirksame Medikamente zur Verfügung stehen, die eine Kombination von Psychopharma- (zum Beispiel Antidepressiva, Antipsychotika, Antidementiva) und Schmerztherapie darstellen. Abzuklären ist in jedem Fall eine mögliche dementielle Entwicklung, das Vorhandensein von Depressionen sowie sonstiger psychodynamischer Probleme und organischer Faktoren wie einer hormonellen Imbalance. Die Behandlung selbst gehört in die Hand des Neurologen und sollte mit einem umfangreichen Gedächtnistraining gekoppelt sein.

Neueste Forschungsergebnisse über das Gehirn geben in dieser Hinsicht immer mehr Einblicke, erklärt der Wissenschafter. „Wir verfügen über funktionelle Bildgebungen, die von der Narkosetiefemessung bis zur Darstellung des Gehirnzustands nach dem Eingriff reichen.“ Schon jetzt wird dieses Monitoring in vielen Krankenhäusern routinemäßig eingesetzt. Der Experte plädiert bei Gedächtnisproblemen für eine Verlaufskontrolle, die drei Monate und ein Jahr nach der Operation durchgeführt werden sollte. Anhand dieser Unterlagen ist die laufende Therapie zu variieren.

Weitere Forschungsergebnisse

  • Untersuchungen der verbalen Leistung, der Aufmerksamkeit, des impliziten Gedächtnisses sowie der visuellen räumlichen Leistung haben gezeigt, dass es hinsichtlich der kognitiven Beeinträchtigung keine Unterschiede zwischen Voll- und Regionalnarkose gibt.
  • Schmerz ist ein wesentlicher Kofaktor für das Auftreten eines postoperativen kognitiven Defizits. Die Behandlung der Schmerzen reduziert das Auftreten von Gedächtnisproblemen.
  • Kognitive Defizite nach Operationen hängen auch mit der Schulbildung zusammen. Durchtrainierte Gehirne sind deutlich weniger gefährdet als jene von Menschen mit geringer Bildung.
  • Auch Depressionen und Angst erhöhen postoperative kognitive Komplikationen. Durch beide Stressfaktoren wird das Gehirn vulnerabler. Entsprechende präoperative Therapien zur Ausschaltung dieser Faktoren sind angeraten.

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 6 / 25.03.2010