Ori­gi­nal­ar­beit: Klima beein­flusst Mortalität

25.05.2010 | Medizin


An Tagen mit mäßi­ger, star­ker und extre­mer Wär­me­be­las­tung steigt die Mor­ta­li­tät. Das ergab eine aktu­elle inter­dis­zi­pli­näre Stu­die, im Rah­men derer bio­kli­ma­ti­sche Daten mit Mor­ta­li­täts­da­ten über einen Zeit­raum von mehr als 30 Jah­ren mit­ein­an­der in Bezie­hung gesetzt wur­den.
Von Wolf­gang Marktl et al.*

Ein­lei­tung

Zwi­schen dem mensch­li­chen Orga­nis­mus und sei­ner Umwelt fin­det ein stän­di­ger Wär­me­aus­tausch statt, bei dem ver­schie­dene Wär­me­trans­port­ar­ten betei­ligt sind. Über einen kür­ze­ren Zeit­raum ist der Mensch in der Lage, sehr hohe und sehr tiefe Umge­bungs­tem­pe­ra­tu­ren zu tole­rie­ren, was auch mit der Tat­sa­che zusam­men­hängt, dass die Luft ein schlech­ter Wär­me­lei­ter ist. Eine gesund­heit­lich unbe­denk­li­che Expo­si­tion gegen­über sehr kal­ten und sehr war­men Kli­ma­be­din­gun­gen über län­gere Zeit stellt jedoch ein Pro­blem dar. In den letz­ten Jah­ren wird inter­na­tio­nal über das Pro­blem des Kli­ma­wan­dels und des­sen Aus­wir­kun­gen dis­ku­tiert, wobei auch die mög­li­chen Fol­gen für den Gesund­heits­zu­stand der Bevöl­ke­rung Gegen­stand der Dis­kus­sion sind. Dabei wird bekannt­lich der Kli­ma­wan­del vor allem mit dem beob­acht­ba­ren glo­ba­len Tem­pe­ra­tur­an­stieg in Zusam­men­hang gebracht. Eine der Fra­gen, die sich dar­aus ergibt, ist, ob und wie sich die zuneh­mende Erwär­mung auf die Mor­ta­li­tät aus­wirkt. Von Sei­ten der Bio­kli­ma­to­lo­gie wird jeden­falls dar­auf hin­ge­wie­sen, dass der Hit­ze­som­mer des Jah­res 2003 deut­lich gemacht hat, wel­che Aus­wir­kun­gen län­ger dau­ernde hohe Außen­tem­pe­ra­tu­ren auf die gesund­heit­li­che Situa­tion des Men­schen haben.

In zahl­rei­chen umwelt­epi­de­mio­lo­gi­schen Stu­dien wer­den Bezie­hun­gen zwi­schen der ther­mi­schen Umwelt und ther­misch beding­ter Mor­ta­li­tät gefun­den. Aller­dings wurde in kei­ner die­ser Stu­dien die ther­mi­sche Umwelt kon­se­quent gesund­heits­re­le­vant bewer­tet. Dazu ist fest­zu­stel­len, dass ein­fa­che meteo­ro­lo­gi­sche Para­me­ter oder eine Kom­bi­na­tion der­sel­ben nicht aus­rei­chend sind, um die auf den Men­schen wir­kende ther­mi­sche Umge­bung adäquat zu beschrei­ben. Aus die­sem Grund sind human bio­me­teo­ro­lo­gi­sche Ver­fah­ren, die alle rele­van­ten meteo­ro­lo­gi­schen Grö­ßen (Luft­tem­pe­ra­tur, Was­ser­dampf­druck der Luft, Strah­lung und Wind­ge­schwin­dig­keit) mit den ther­mo­phy­sio­lo­gi­schen Grö­ßen (Ener­gie­um­satz, Alter, Größe, Geschlecht, u.a.) ver­knüp­fen, vorzuziehen.

Umfang­rei­che Stu­dien über den Zusam­men­hang zwi­schen der Mor­ta­li­tät und der Wär­me­be­las­tung unter Ein­be­zie­hung der erwähn­ten Para­me­ter lie­gen für Öster­reich bis­her noch nicht vor. Aus die­sem Grund und wegen der Aktua­li­tät die­ser Pro­ble­ma­tik wurde im Jahr 2009 eine inter­dis­zi­pli­näre und inter­na­tio­nale Stu­die unter der Füh­rung der Zen­tral­an­stalt für Meteo­ro­lo­gie und Geo­dy­na­mik (ZAMG) durch­ge­führt, in der bio­kli­ma­ti­sche Daten mit Mor­ta­li­täts­da­ten über einen Zeit­raum von mehr als 30 Jah­ren mit­ein­an­der in Bezie­hung gesetzt wur­den. Aus die­sen Daten kön­nen nicht nur Aus­sa­gen über die Ver­gan­gen­heit getrof­fen wer­den, son­dern auch in Ver­bin­dung mit regio­na­len Kli­ma­mo­del­len pro­spek­tive Erkennt­nisse über die in der Zukunft zu erwar­tende Kli­ma­ver­än­de­rung und deren Aus­wir­kun­gen auf die Mor­ta­li­tät abge­lei­tet werden.

Metho­dik

Die durch­ge­führte Ana­lyse beruht auf Mess­da­ten von neun für die ein­zel­nen öster­rei­chi­schen Bun­des­län­der reprä­sen­ta­ti­ven Sta­tio­nen der ZAMG sowie auf Mor­ta­li­täts­da­ten der ein­zel­nen Bun­des­län­der, die von der Sta­tis­tik Aus­tria zur Ver­fü­gung gestellt wur­den. Der vor­lie­gende Bei­trag befasst sich mit den Ergeb­nis­sen aus Wien.

Die täg­li­chen Wie­ner Mess­da­ten, also Luft­tem­pe­ra­tur, Dampf­druck, Wind­ge­schwin­dig­keit und Strah­lung aus dem Zeit­raum 1971 bis 2007 wur­den kli­ma­to­lo­gisch auf­be­rei­tet. Aus die­sen meteo­ro­lo­gi­schen Grö­ßen sowie den ther­mo­phy­sio­lo­gi­schen Para­me­tern Akti­vi­tät, Alter, Gewicht, Geschlecht wird die Phy­sio­lo­gisch Äqui­va­lente Tem­pe­ra­tur PET in Grad Cel­sius für eine Stan­dard­per­son berech­net. Im Ein­zel­nen beruht PET, die aus dem Münch­ner Ener­gie­bi­lanz­mo­dell MEMI (Höppe, 1984) abge­lei­tet wird, auf dem Wär­me­aus­tausch des Men­schen mit sei­ner Umge­bung. Sie ist defi­niert als die Tem­pe­ra­tur, die dem ther­mi­schen Emp­fin­den eines Men­schen bei leich­ter Tätig­keit (meta­bo­li­sche Rate 80 W) in einem Innen­raum mit einer Wind­ge­schwin­dig­keit von 0,1 m/​s, einem Was­ser­dampf­druck von 12 hPa (ent­spricht bei 20°C einer Luft­feuch­tig­keit von 50%) und einer typi­schen leich­ten Beklei­dung ent­spricht. PET dient dazu, die kom­plexe ther­mi­sche Situa­tion mit einem ein­fa­chen Wert zu beschrei­ben. Die Ver­wen­dung eines Tem­pe­ra­tur­werts mit der Ein­heit Grad Cel­sius ermög­licht es, PET anzu­wen­den und kor­rekt zu inter­pre­tie­ren, ohne sich mit den phy­sio­lo­gi­schen Kom­po­nen­ten des Ener­gie­bi­lanz­mo­dells ver­traut machen zu müs­sen. Werte zwi­schen 18 und 23°C bedeu­ten in Mit­tel­eu­ropa ther­mi­sche Behag­lich­keit und Werte über 35°C starke ther­mi­sche Belas­tung und somit eine quan­ti­ta­tive Beschrei­bung von Hit­ze­ver­hält­nis­sen. Eine Illus­tra­tion dazu kann der Tab. 1 ent­nom­men werden.

Zuord­nung von PET-Berei­chen* (Tab. 1)

PET

Ther­mi­sches Empfinden

Ther­mo­phy­sio­lo­gi­sche Belastungsstufe

sehr kalt

extreme Käl­te­be­las­tung

4°C

kalt

starke Käl­te­be­las­tung

8°C

kühl

mäßige Käl­te­be­las­tung

13°C

leicht kühl

schwa­che Kältebelastung

18°C

behag­lich

keine ther­mi­sche Belastung

23°C 

leicht warm

schwa­che Wärmebelastung

29°C

warm

mäßge Wär­me­be­las­tung

35°C

heiß

starke Wär­me­be­las­tung

41°C

sehr heiß

extreme Wär­me­be­las­tung

* zu ther­mi­schem Emp­fin­den und ther­mo­phy­sio­lo­gi­schen Belas­tungs­stu­fen von Men­schen in Mit­tel­eu­ropa, bezo­gen auf eine meta­bo­li­sche Rate von 80 W und einen Wär­me­durch­gangs­wi­der­stand der Beklei­dung (leich­ter Anzug) von 0.9 clo (nach Matz­ara­kis und Mayer, 1996)

Die täg­li­che Mor­ta­li­tät wird über pro­zen­tu­elle Abwei­chun­gen eines Tages­wer­tes von einem berech­ne­ten Erwar­tungs­wert beschrie­ben. Dazu wur­den die abso­lu­ten Mor­ta­li­täts­sum­men mit Hilfe der Ein­woh­ner­zah­len zu Mor­ta­li­täts­ra­ten, das heißt die Anzahl der Todes­fälle pro 100.000 Ein­woh­ner umge­rech­net.
Fol­gende Todes­ur­sa­chen­grup­pen wur­den analysiert:

  • bös­ar­tige Neubildungen
  • Krank­hei­ten des Herz-Kreislauf-Systems
  • Krank­hei­ten der Atmungsorgane
  • Krank­hei­ten der Verdauungsorgane
  • sons­tige Krankheiten
  • Ver­let­zun­gen und Vergiftungen. 

Ergeb­nisse und Diskussion

Im Unter­su­chungs­zeit­raum 1970 bis 2007 stieg die Jah­res­mit­tel­tem­pe­ra­tur in Wien um 1.3°C, im Mit­tel der Monate April bis Okto­ber waren es sogar 2°C, wäh­rend die Tem­pe­ra­tur­zu­nahme im Win­ter­halb­jahr mit weni­ger als 1°C deut­lich gerin­ger aus­ge­fal­len ist. Es besteht aller­dings ein Trend zu weni­ger Tagen mit extre­mer und star­ker Käl­te­be­las­tung sowie zu mehr Tagen mit star­ker und extre­mer Wär­me­be­las­tung. Tage mit mäßi­ger (PET >29°C), star­ker (PET >35°C) und extre­mer (PET >41°C) Wär­me­be­las­tung sind durch deut­lich erhöhte Mor­ta­li­täts­zah­len gekenn­zeich­net. In der höchs­ten Belas­tungs­klasse (PET >41°C) ist die Mor­ta­li­tät bei bei­den Geschlech­tern in Wien um 13 Pro­zent höher, wobei Frauen eine signi­fi­kant höhere Mor­ta­li­tät auf­wei­sen als Män­ner. Pati­en­ten mit Herz-Kreis­lauf- und Atem­wegs­er­kran­kun­gen wei­sen an Tagen mit extre­mer Wär­me­be­las­tung im Ver­gleich zur Gesamt­mor­ta­li­tät noch höhere Mor­ta­li­täts­zah­len auf. In Wien tra­ten sol­che Tage mit extre­mer Wär­me­be­las­tung in den ver­gan­ge­nen Jah­ren durch­schnitt­lich neun­mal pro Jahr auf. Im Bereich des ther­mi­schen Kom­forts (PET ≤29°C) liegt hin­ge­gen die Mor­ta­li­tät gering­fü­gig unter dem Erwartungswert.

Hit­ze­pe­ri­oden wei­sen am ers­ten Tag eine mit 2,6 Pro­zent signi­fi­kant erhöhte Mor­ta­li­tät auf, die in den fol­gen­den Tagen ansteigt und am sechs­ten Tag mit 15,6 Pro­zent das Maxi­mum erreicht. Danach nimmt die Mor­ta­li­tät wie­der ab. Gleich­zei­tig neh­men jedoch auch die Unsi­cher­hei­ten auf­grund des gerin­ge­ren Daten­um­fangs zu. Epi­so­den mit einer Min­dest­länge von zehn Tagen tra­ten zwi­schen 1970 und 2007 ledig­lich neun­mal auf. Diese Aus­sage gilt für Tage mit PET >35°C. An Tagen, an denen der Schwel­len­wert zur extre­men Wär­me­be­las­tung mehr­mals in Folge über­schrit­ten (PET >41°C) wird, steigt die Mor­ta­li­tät mit zuneh­men­der Dauer von 8,9 Pro­zent bis zu 27,4 Pro­zent am vier­ten Tag an.

Gene­rell gilt, dass Hit­ze­wel­len, die früh im Jahr auf­tre­ten, gra­vie­ren­dere Aus­wir­kun­gen haben, als Hit­ze­wel­len im Spät­som­mer. Es kann ange­nom­men wer­den, dass bei die­sem Unter­schied die wäh­rend des Som­mers ein­tre­tende Wär­me­ak­kli­ma­tis­a­tion eine Rolle spielt (Koppe und Jen­dritzky, 2005).

Kli­ma­mo­delle für das 21. Jahrhundert

Die fest­ge­stell­ten Zusam­men­hänge zwi­schen Mor­ta­li­tät und PET wer­den auf das Klima des 21. Jahr­hun­derts pro­ji­ziert. Die Klima-Simu­la­tio­nen beru­hen auf zwei regio­na­len Kli­ma­mo­del­len und erge­ben eine deut­li­che Zunahme der Belas­tungs­tage bis zum Ende des 21. Jahr­hun­derts. Diese Zunahme ist in Abhän­gig­keit von einer unter­schied­lich aus­ge­präg­ten Zunahme der Treib­haus­gas­emis­sio­nen unter­schied­lich stark.

Bis zum Jahr 2040 sind jedoch in kei­nem Modell und Kli­ma­sze­na­rio signi­fi­kante Ände­run­gen gegen­über dem Unter­su­chungs­zeit­raum zu erken­nen. Für die Zeit danach muss jedoch mit einer Zunahme der Tage mit star­ker und extre­mer Hit­ze­be­las­tung gerech­net wer­den. Die Mor­ta­li­tät könnte im schlimms­ten Fall um 60 bis 100 Pro­zent zuneh­men. Es exis­tie­ren jedoch auch Hin­weise dafür, dass lang­fris­tig ein Rück­gang der Mor­ta­li­tät bei mäßi­ger ther­mi­scher Belas­tung auf­tre­ten könnte; was als lang­fris­ti­ger Anpas­sungs­vor­gang an geän­derte kli­ma­ti­sche Bedin­gun­gen inter­pre­tiert wer­den könnte.

Lite­ra­tur bei den Ver­fas­sern
*) Univ. Prof. Dr. Wolf­gang Marktl, Wie­ner Inter­na­tio­nale Aka­de­mie für Ganz­heits­me­di­zin, 1140 Wien;
Ste­fan Muthers und Dr. Eli­sa­beth Koch, Zen­tral­an­stalt für Meteo­ro­lo­gie und Geo­dy­na­mik, 1190 Wien;
Prof. Dr. Andreas Matz­ara­kis, Meteo­ro­lo­gi­sches Insti­tut der Albert-Lud­wigs-Uni­ver­si­tät Freiburg