Krisenintervention ist bereit: Interview – Univ. Prof. Barbara Juen

25.01.2010 | Medizin

Krisenintervention ist bereit

Auf den Pfeilern Sicherheit, Intervention, Stressreduktion und Kontrolle ruht die Krisenintervention. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens erläutert Univ. Prof. Barbara Juen vom Institut für Psychologie der Universität Innsbruck den Sinn und Zweck von Kriseninterventionsteams. Das Gespräch führte Sabine Fisch.  

ÖÄZ: Seit mittlerweile zehn Jahren existiert die Krisenintervention. Wieso hat man ein solches Team überhaupt ins Leben gerufen?
Juen: Nach dem Grubenunglück von Lassing ist erstmals ein Bewusstsein für die Notwendigkeit der Krisenintervention entstanden. Ich war damals mit drei Kollegen für die Krisenintervention bei einer privaten Airline zuständig. Nach der Lawinenkatastrophe von Galtür wurden wir erstmals gebeten, Krisenintervention zu leisten. Um dieses Angebot zu professionalisieren war rasch klar, dass wir unter dem Dach einer Einsatzorganisation arbeiten mussten. Das Rote Kreuz erklärte sich rasch zu einer Zusammenarbeit bereit, wenn wir Krisenintervention auch bei Alltagsereignissen wie etwa Verkehrsunfällen oder Suiziden anbieten würden. Diese Vorgehensweise hat sich sehr bewährt.

Welche Strategien der Krisenintervention sind bei großen Schadensereignissen besonders wichtig?

Die Krisenintervention muss vier Dinge für Betroffene und Angehörige von Opfern anbieten: Sie brauchen Sicherheit, einen eigenen Raum für sich, in dem sie auch vor der Presse geschützt und sicher aufgehoben sind. Sie wollen abgesicherte Informationen. Sie wollen wissen, wie es zur Katastrophe kam, wer betroffen ist und welche Hilfsmaßnahmen getroffen werden. Der dritte Bereich ist die Stressreduktion: In Galtür hat es rund eine Woche gedauert, bis der letzte Tote identifiziert war. Immer wieder mussten Angehörige in die Leichenhalle gehen, um festzustellen, ob der gerade geborgene Tote zu ihrer Familie gehört. Dabei begleiten, unterstützen und entlasten wir die Angehörigen. Der vierte und letzte Punkt ist die Kontrolle. Die Angehörigen müssen das Gefühl haben, die Situation wenigstens teilweise kontrollieren zu können. Das können ganz kleine Dinge sein, wie etwa wie der Verstorbene im Sarg gekleidet sein soll. Wir behandeln die Betroffenen als mündige Erwachsene. Die brauchen auch keinen Psychologen, sondern jemanden, der sie in der Krisensituation unterstützt, wenn sie das wollen. Wir stellen uns auch nicht als Psychologen vor, sondern als Mitarbeiter des Roten Kreuzes, weil wir dadurch eher akzeptiert werden.

Was tut das Kriseninterventionsteam bei großen Schadensereignissen?

Wir errichten Betreuungszentren am Ort des Geschehens, in denen Angehörige Information und Unterstützung erhalten. In diesen Zentren werden die Angehörigen zunächst empfangen. Sie erhalten einen sogenannten Primärbetreuer, der sich ausschließlich um die persönlichen Belange dieser Betroffenen kümmert. Zudem wird ein Einsatzleiter definiert, der die Angehörigen regelmäßig mit abgesicherten Informationen versorgt. Das kann ein Problem sein, weil die Medien oft viel schneller Namen veröffentlichen als die Einsatzkräfte vor Ort dies tun können. In jedem Betreuungszentrum gibt es daher einen Medienraum, in dem der Einsatzleiter beobachtet, was gesendet wird und dies sofort den Angehörigen im Zentrum weiter kommuniziert. Die Angehörigen müssen das Gefühl haben, dass sie gut und rasch informiert werden und den Betreuern im Zentrum vertrauen können.

Was leistet die Krisenintervention abseits von großen Schadensereignissen?
Wir kommen vor allem bei außergewöhnlichen Todesfällen wie etwa Suiziden oder Unfällen zum Einsatz. Pro Jahr betreuen wir 2.300 Fälle mit etwa 7.000 betroffenen Personen. Wir werden von den betreuenden Ärzten gerufen, wenn die Angehörigen dies möchten und bleiben etwa drei Stunden bei der Familie, unterstützen bei alltäglichen Dingen, wie etwa der Abholung der Kinder von der Schule, dem ersten Gespräch mit dem Arbeitgeber. Wir versuchen die Betroffenen durch die Situation „durchzucoachen“, damit sie möglichst viel selbst machen können.

Was ist psychische Erste Hilfe?
Was jeder Rettungssanitäter, Polizist oder Laienhelfer beherrschen sollte, ist der Umgang mit Opfern von Unglücksereignissen unmittelbar nach dem Ereignis. Dazu gehört etwa, nicht neben einem auf dem Boden liegenden Opfer stehen zu bleiben, sondern auf Augenhöhe zu gehen. Die psychologische Erste Hilfe läuft mit der medizinischen Ersten Hilfe mit. Im Gegensatz oder eher in Ergänzung dazu steht die psychosoziale Unterstützung, die die Krisenintervention für Opfer und Angehörige anbietet. Dies ist ein von der medizinischen Unterstützung getrennter Bereich, der sich auch eher an die Angehörigen richtet, für die das medizinische Personal aus verständlichen Gründen oft keine Zeit hat. Psychosoziale Unterstützung ist multiprofessionell, sie besteht aus Einsatzkräften sowie Fachleuten aus dem Bereich Sozialarbeit, Psychologie aber auch Seelsorge. Uns ist die Unterstützung der Angehörigen wichtig, weil diese früher oft „in der Hitze des Gefechts“ allein gelassen wurden.

Wie läuft die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Kriseninterventionsteams im Katastrophenfall aber auch bei krisenhaften Alltagsereignissen?

Die Kooperation funktioniert sehr gut. Die Krisenintervention ist in ganz Österreich tätig. Ein Beispiel: Wenn ein Familienmitglied Suizid begeht, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Familie Unterstützung braucht, die über die medizinische Tätigkeit des Notarztes oder Amtsarztes hinausgeht – in einem solchen Fall werden wir von den Ärzten benachrichtigt. Besonders wichtig ist dann für uns die Übergabe durch den Arzt an uns. Wir erleben vielfach große Erleichterung bei den Ärzten, wenn wir ihnen die Arbeit mit den Angehörigen – schon aus Zeitgründen – „abnehmen“.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 1-2 / 25.01.2010