Inter­view – Univ. Prof. Dr. Man­fred Frey: Bewusst überdimensioniert

15.08.2010 | Medizin

Bei der Mus­kel­trans­plan­ta­tion wird von vorn­her­ein über­di­men­sio­niert, da letzt­lich nur rund 50 Pro­zent des trans­plan­tier­ten Mus­kels übrig blei­ben, erklärt Univ. Prof. Man­fred Frey, Lei­ter der Abtei­lung für plas­ti­sche Chir­ur­gie am AKH Wien, im Vor­feld des 6. Inter­na­tio­na­len Mus­kel­sym­po­si­ums Anfang Sep­tem­ber in Wien im Gespräch mit Corina Pet­scha­cher.


ÖÄZ: Nach wel­chen mor­pho­lo­gi­schen und funk­tio­nel­len Kri­te­rien wer­den die Trans­plan­tate bei einer Mus­kel­trans­plan­ta­tion aus­ge­wählt?

Frey: Wenn eine aus­rei­chende Kraft von einem Mus­kel­trans­plan­tat erreicht und eine aus­rei­chende Bewe­gungs­am­pli­tude dadurch pro­du­ziert wer­den soll, muss ein aus­rei­chend gro­ßer Mus­kel ver­wen­det wer­den, der nur mit mikro­chir­ur­gi­schem Gefäß­an­schluss trans­plan­tiert wer­den kann. Es sind zwei Mus­keln, die für die Trans­plan­ta­tion in Frage kom­men. Der Gra­ci­lis­mus­kel, der einer­seits auf­grund sei­ner Ent­behr­bar­keit am Ober­schen­kel, ande­rer­seits auf­grund sei­ner Par­al­lel­fa­se­rig­keit und Länge der ein­zel­nen Mus­kel­fa­sern ganz beson­ders für die funk­tio­nelle Rekon­struk­tion taugt – sei es im Gesicht, um bei einer irrever­si­blen Gesichts­läh­mung ein­ge­setzt zu wer­den. Hier besteht das Spe­zi­fi­kum darin, dass dort kleine Kräfte und kleine Wege pro­du­ziert wer­den müs­sen. Oder er wird im Bereich der Extre­mi­tä­ten ein­ge­setzt, wo ein Mus­kel benö­tigt wird, der bis an die Grenze belast­bar ist und eine aus­rei­chende Kraft erzeu­gen kann. Der Latis­si­mus dorsi Mus­kel wird bevor­zugt, wenn gleich­zei­tig auch Defekt­de­ckungs­pro­bleme gelöst wer­den müs­sen, wie zum Bei­spiel im Rah­men eines Quetsch­trau­mas, bei dem ganze Mus­kel­grup­pen ver­lo­ren gegan­gen sind. Hier kann ein myo­ku­ta­ner, aus Haut und Mus­kel bestehen­der freier Gewe­be­trans­fer vor­ge­nom­men wer­den, um einer­seits den Defekt abzu­de­cken und ande­rer­seits den ver­wen­de­ten Mus­kel als funk­tio­nel­les Ele­ment ein­zu­set­zen, indem er mit Gefä­ßen und Ner­ven ver­sorgt und in der rich­ti­gen Grund­span­nung ein­ge­näht wird.

Wel­che Fak­to­ren beein­flus­sen nach einer Mus­kel­trans­plan­ta­tion die Rege­ne­ra­tion?
Hier sind Mus­keln und Ner­ven kaum von­ein­an­der zu tren­nen. Wir spre­chen von einer neu­ro­mus­ku­lä­ren Rekon­struk­tion, da eine direkte Abhän­gig­keit die­ser Struk­tu­ren von­ein­an­der besteht, wes­halb es um rege­ne­ra­tive Pro­zesse in bei­den Struk­tu­ren geht. So gut die erzielte Ner­ven- und Mus­kel­re­ge­ne­ra­tion ist, ist auch das erziel­bare Ergeb­nis. Auch ver­schie­dene Fak­to­ren wäh­rend des Trans­plan­ta­ti­ons­vor­gangs, wie die pas­sa­gere Ischä­mie und die Zeit der Dener­va­tion, bis der neue Nerv wie­der ein­wächst, beein­flus­sen das Resul­tat. Letzt­lich blei­ben nur etwa 50 Pro­zent an Funk­tion und Volu­men des trans­plan­tier­ten Mus­kels übrig, was das zu erwar­tende Ergeb­nis redu­ziert, sodass bei der Mus­kel­trans­plan­ta­tion von vorn­her­ein über­di­men­sio­niert wird. Etwa sechs Wochen nach der Trans­plan­ta­tion wird mit einer Elek­tro­sti­mu­la­tion des Mus­kels begon­nen, damit er nicht zu stark atro­phiert, bis der ver­sor­gende Nerv ein­trifft und der Mus­kel in einem guten Zustand ist, wenn er rein­ner­viert wird. Die wei­tere Rege­ne­ra­tion wird durch phy­si­ka­li­sche The­ra­pien geför­dert.

Wel­che Neue­run­gen gibt es im Bereich der Ner­ven­trans­plan­ta­tion?

Es ste­hen ver­schie­dene tech­ni­sche Mög­lich­kei­ten, den Mus­kel mit Ner­ven zu ver­sor­gen, zur Ver­fü­gung: Einer­seits die End-zu-End-Ner­ven­naht, ande­rer­seits besteht die Mög­lich­keit, den Nerv im Bereich der End­plat­ten­zone des Mus­kels direkt in den Mus­kel zu implan­tie­ren, von wo aus die rege­ne­rie­ren­den Axone aus­wach­sen und sich zwi­schen den Mus­kel­fa­sern die End­plat­ten suchen, diese beset­zen und funk­tio­nelle Ver­bin­dun­gen her­stel­len. Eine inno­va­tive Methode besteht in der soge­nann­ten End-zu-Seit-Ner­ven­naht: Ein funk­tio­nel­les Mus­kel­trans­plan­tat wird an einen intak­ten, moto­ri­schen Nerv End-zu-Seit ange­schlos­sen, ohne die­sen zu zerstören.

Gibt es eine Art Mus­kel­er­satz­ma­te­rial, das man anstelle von mensch­li­cher Mus­ku­la­tur trans­plan­tie­ren könnte?
Ver­schie­dene Ver­su­che, ein funk­tio­nel­les Mus­kel­or­gan zu erzeu­gen, sind unter den kli­ni­schen Erwar­tun­gen geblie­ben. Eine Über­le­gung der letz­ten Jahre war, ob man nicht zer­klei­nerte Mus­ku­la­tur im Sinne von Trans­plan­ta­ti­ons- und Satel­li­ten­zel­len trans­plan­tie­ren könnte. Das hat zwar im Labor funk­tio­niert, aber es zu einer sinn­vol­len kli­ni­schen Leis­tungs­fä­hig­keit zu brin­gen, hat nicht funk­tio­niert. Es wur­den auch schon Extre­mi­tä­ten von ande­ren Men­schen trans­plan­tiert, wobei hier die Frage ist, ob das, was man an Funk­tio­na­li­tät vom Trans­plan­tat erwar­ten kann, die lebens­lange Immun­sup­pres­sion und die damit ver­bun­de­nen Pro­bleme recht­fer­tigt. Ein Ersatz­ma­te­rial im Sinne eines Gewe­bes, das die mensch­li­che Mus­ku­la­tur ersetzt, gibt es aller­dings lei­der nicht. Das stellt auch ein Pro­blem dar, wenn zum Bei­spiel im Rah­men der The­ra­pie einer Ple­xus­pa­rese der Nerv rekon­stru­iert wird und nach eini­ger Zeit wie­der voll­stän­dig rege­ne­riert, die Mus­ku­la­tur, die er ver­sorgt, aller­dings in die­ser Zeit atro­phiert. Das ist eine klas­si­sche Indi­ka­tion, auch das Erfolgs­or­gan des Nervs zu erset­zen. Hier gab es in den letz­ten 20 Jah­ren eine ziem­li­che Kon­zept­än­de­rung, was die Vor­ge­hens­weise betrifft. Man hat sich frü­her immer auf die Ner­ven­re­kon­struk­tion kon­zen­triert. Heute weiß man, dass man mit einer gleich­zei­ti­gen Mus­kel­trans­plan­ta­tion grö­ßere Erfolge erzielt. Wis­sen­schaft­lich kon­zen­trie­ren wir uns des­halb im Moment sehr auf die Nut­zung die­ser rege­ne­rier­ten Axone.

Wohin geht die Ent­wick­lung im Bereich der Pro­the­tik – Stich­wort Bio­nik?
Wenn die Funk­tion der Mus­ku­la­tur nicht durch Mus­kel­trans­plan­ta­tion ersetz­bar ist, dann kom­men intel­li­gente Pro­the­sen zum Ein­satz, die mit Steue­rungs­im­pul­sen auf dem rich­ti­gen Weg wie zum Bei­spiel in Form von Gedan­ken-gesteu­er­ten Pro­the­sen eine Alter­na­tive zur Mus­kel­trans­plan­ta­tion dar­stel­len. Die Bio­nik, also die Kom­bi­na­tion aus Bio­lo­gie und Tech­nik, wird heute sehr inten­siv betrie­ben. Die intel­li­gen­ten Pro­the­sen wer­den durch einen Elek­tro­mo­tor betrie­ben, jedoch von der pro­xi­ma­len Mus­ku­la­tur bezie­hungs­weise über die Haut gesteu­ert.

Wel­che Ergeb­nisse erzielt man damit?
Eines der Pro­bleme stellt bis­lang die feh­lende Sen­si­bi­li­tät in der Pro­these dar. Hier stellt sich die Frage: Wie kann man den feh­len­den Mus­kel bis hin zu einer peri­phe­ren sen­si­blen Per­zep­tion über die Pro­these best­mög­lich erset­zen? In die­sem Bereich fin­den schon sehr inno­va­tive Dinge statt, indem nicht nur die Mus­kel­ver­sor­gung auf Steue­rungs­mus­keln umge­lenkt, son­dern auch Haut­areale in der Nähe des Ampu­ta­ti­ons­stump­fes mit den Ner­ven ver­sorgt wer­den, die bei­spiels­weise die Hand reprä­sen­tie­ren. Das Pro­the­sen­si­gnal löst dort einen Sti­mu­lus aus und der Betrof­fene emp­fin­det das dann, als ob es am Dau­men oder Zei­ge­fin­ger aus­ge­löst wird, was natür­lich eine Stei­ge­rung der Kon­trolle mit sich bringt.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 15–16 /​15.08.2010