Interview – Univ. Prof. Dr. Achim Peters: Selbstsüchtiges Gehirn

10.04.2010 | Medizin

Übergewicht entsteht nicht durch ein Versorgungsüberangebot der Umwelt, sondern durch einen Versorgungsengpass. Das ist einer der Schlüsse, den Univ. Prof. Achim Peters aus der von ihm begründeten Selfish Brain-Theorie zieht. Was genau dahinter steckt, darüber sprach mit dem Lübecker Internisten Birgit Oswald.


ÖÄZ: Was versteht man unter der „Selfish Brain-Theorie“?

Peters: Seit 1921 weiß man, dass das Gehirn selbstsüchtig agiert. Im Zentrum der Theorie steht das Gehirn, das sich eigensüchtig gegenüber dem Körper verhält. Die Pathologin Marie Krieger konnte durch ihre Untersuchungen an Leichen, die an Auszehrungen gestorben waren, zeigen, dass alle Organe nach dem Tod 40 Prozent abnehmen, außer dem Gehirn, welches höchstens ein Prozent oder gar nicht abnimmt. Mittels High Tech konnte bestätigt werden, dass das Gehirn diese dominante Rolle sowohl beim Menschen als auch beim Tier und sogar beim Fötus hat. In Notzeiten nimmt es dem Körper die Energie weg, um das Überleben zu sichern. 1998 habe ich die Selfish Brain- Theorie begründet und auch für mich war es ein Umdenken, plötzlich das Gehirn und nicht mehr andere Organe bei metabolischen Erkrankungen in den Mittelpunkt zu stellen.

Bei welchen Erkrankungen spielt Ihre Theorie eine Rolle?
Man kann die Selfish Brain-Theorie auf Magersucht, Depression und viele Bereiche der Medizin anwenden, aber Übergewicht steht momentan im Zentrum, weil viele Menschen davon betroffen sind. Übergewicht hat eine neuroenergetische Ursache, es entsteht durch einen Versorgungsengpass und nicht durch das Überangebot der Umwelt. Das führt zum Stau in der Lieferkette, die vom Tisch in den Körper zum Gehirn führt.

Wie kommt es dazu?
Wenn das Gehirn aktiv die Kraft aus dem Körper bestellt, nennen wir das ‚Brain- Pull‘. ‚Pull‘ ist ein Begriff aus der Wirtschaft, der besagt, dass derjenige, der Bedarf hat, also der Kunde, anfordert. In den obersten hierarchischen Regionen des Gehirns beginnt der Brain Pull, wird generiert, geht dann zum Hirnstamm und von dort gehen die Signale in den Körper. Der Brain Pull ist also kein Schalter, den man ein- und ausschaltet, sondern ein Neuronennetzwerk, das sich vom Cortex bis zum Hirnstamm erstreckt, welches dann Nervenfasern in den Körper sendet, zur Leber, zur Bauchspeicheldrüse, zur Muskulatur. Das ist ein lernendes, sich selbst immer wieder optimierendes komplexes System. Umgelegt heißt das nun: Wenn diese Lieferkette nicht richtig funktioniert, dann staut sich die Energie vor dem Gehirn im Blut, daraus folgt Diabetes, oder sie staut sich im Fettgewebe, dann kommt es zu Übergewicht. Während bei Übergewicht der Brain Pull zu schwach ist, ist bei Magersucht das Gegenteil der Fall. Bei Anorexia nervosa kommt es zu einer Überaktivität des Brain Pulls. Ein erhöhter Cortisol-Wert zeigt, dass das Gehirn eine überdominante Position hat und dem Körper die Energie wegnimmt.

Welche Relevanz haben diese Erkenntnisse für die Praxis im Hinblick auf die Behandlung von übergewichtigen Patienten?
Wir forschen gerade daran, die Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen. Bei einem übergewichtigen Menschen, ist der erste Schritt, die Diagnose zu bestätigen. Wir suchen gerade nach Biomarkern, die man als diagnostisches Werkzeug benutzen kann. Ein niedriger Plasma-Laktat-Wert oder ein hoher Insulinwert über 145 pmol/L bei normalem Blutzucker etwa zeigen eine Brain Pull-Schwäche an.

Was sind die Ursachen einer Brain Pull-Störung? Welche Faktoren spielen eine Rolle?
Ich vergleiche Brain Pull-Störungen mit Computerstörungen: Es liegt entweder ein Hardware- beziehungsweise Software-Fehler vor oder Viren stören das Programm. Hardware-Störungen sind selten, sie werden zum Beispiel durch Tumore oder seltene Gen-Defekte ausgelöst und führen zu Übergewicht. Häufig sind hingegen Software-Probleme. Eine Programmierung des Brain Pull gibt es schon im Mutterleib, später im Jugendalter und beim Erwachsenen durch Trauma und Stress, durch Signale von außen, die zu einer Konditionierung führen. Der häufigste Faktor ist chronischer Stress. Das Gehirn braucht dann ständig mehr Energie und aktiviert den Brain Pull, daraus folgt, dass die Stimmung schlecht wird. Wenn der Stress weg ist und der Brain Pull wieder in Ruhelage kommt, hebt sich auch die Stimmung wieder. Bei chronischem Stress gibt es zwei Typen von Menschen: Bei den einen passt sich der Brain Pull an, ein Habituationseffekt tritt ein, sie müssen mehr essen um ihr Gehirn zu versorgen – und sie nehmen zu. Bei den anderen passt sich der Brain Pull nicht an, sie haben ständig einen hohen Brain Pull, der die Energie aus dem Körper nimmt. Diese Menschen sind schlechter Laune und nehmen ab, im schlimmsten Fall geht das bis zur Depression.

Kann man einen schwachen Brain Pull umerziehen?
Es ist sehr aufwendig die gewohnten metabolischen Muster zu überlernen, aber es geht. Wir haben in Lübeck ein Jahr Training mit Gruppenschulung, zwei Psychologen, zehn Teilnehmern versucht. Einige konnten ihr „ICH“ neu formen und ihr Leben umstellen, andere allerdings nicht. Am einfachsten wären die Kinder zu beeinflussen, indem man einen gesunden Lebensstil vorlebt, wie man im sozialen Kontext isst, ihnen zeigt, wie man Konflikte löst und sie von Faktoren fernhält, die den Brain Pull schwächen. Je älter die Menschen sind, umso aufwendiger ist es, die Verhaltenslernprozesse wieder umzukehren. Auch Medien spielen eine große Rolle, Werbesignale stören den Brain Pull, besonders in Fernsehserien wird von Vorbildern positive und negative Esskultur vorgelebt.

Wie sehen Ihre Kollegen Ihre Selfish Brain-Theorie?
Die Akzeptanz ist sehr hoch, ich habe die Theorie mit den Topexperten der Welt wie etwa Mary Dallman aus San Francisco, der Kapazität der Stressforschung, dem Hirnforscher und Begründer von „Energy on demand“ Luc Pellerin, dem Neuroanatomen Larry Swanson und mit Steve Woods, dem Experten in der Erforschung des Übergewichts, abgeglichen. Die Hauptakzeptanz begann in der Welt der Neuroscience, erst dann kam positive Resonanz aus der Psychiatrie, der Inneren Medizin, Endokrinologie, Diabetologie und Ernährung. Ich habe im Grunde nichts Neues erfunden, sondern die Gebiete des zentralen und peripheren Stoffwechsels vereinigt; die Theorie basiert daher auf der bekannten Stoffwechselphysiologie, die ich um die aktive Komponente des Gehirns erweitert habe, deshalb gab es kaum Widersprüche. In Deutschland hat es den Bereich der Theoriebildung verlassen und ist sogar schon Prüfungsstoff der Ärztekammern.

Wie wirkt sich das auf andere Ernährungskonzepte und Diätempfehlungen aus?
Ich rate von kalorienreduzierter Diät ab, da der Hirnstoffwechsel belastet wird. Die vielen schlanken Menschen, die es gibt, sind deshalb schlank, weil sie einen starken Brain Pull haben. Die kann man nicht mästen, die können essen, was sie wollen. Wenn jemand mit starkem Brain Pull zum Frühstück beispielsweise zwei Brötchen isst, geht ein Teil des Zuckers ins Gehirn und der Rest geht in den Speicher. Bei jemanden mit Brain Pull-Störung sind die Speicher im Prinzip immer ein bisschen offen. Bei diesem Menschen verschwinden die zwei Brötchen in den Speichern, das Hirn sagt dann „Wo bleibt mein Frühstück“ und fordert mehr. Wer einen schwachen Brain Pull hat, wird immer mehr essen, um sein Gehirn zu versorgen, egal wie er es über den Tag verteilt oder wie er das Verhältnis von Kohlenhydraten, Proteinen und Fett verändert. Es liegt nicht an der Nahrung, es ist nicht der Kuchen, der uns dick macht, sondern es liegt am Menschen, der sich entscheidet, den Kuchen zu essen, weil er ihn braucht oder nicht braucht. Alles lässt sich auf eine Brain Pull-Störung zurückführen.

Kann eine Pille den Brain Pull anregen?
Rimonabat etwa greift in der Hirnrinde ein und enthemmt den Brain Pull. Die Pille wurde allerdings vom Markt genommen, weil viele Probanden depressiv wurden, nicht mehr schlafen und vergessen konnten, und die Suizidrate sehr hoch war. Diese Entwicklung war aber vorherzusehen, denn es kommt nicht darauf an, einfach mehr Energie anzufordern, sondern im richtigen Moment das richtige Maß zu bestellen, also „on demand“. Wenn man nun ein monotones chemisches Signal auf eine komplexe Software gibt, fährt man ständig den Brain Pull hoch, das verbessert überhaupt nichts an der Dynamik. Die Software muss an das Leben mit seinen Ruhephasen angepasst sein. Ich habe grundsätzliche Zweifel daran, dass jemals eine Wunderpille gegen Übergewicht entwickelt werden kann. Wenn der Brain Pull ein Schalter wäre, würde das gehen, ist er aber nicht. Er ist eines der kompliziertesten Netzwerke, die es gibt auf der Welt.

Zur Person:

Univ. Prof. Achim Peters, geboren 1957 in Dortmund, leitet seit 2004 die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Forschergruppe „Selfish Brain: Gehirn-Glukose und metabolisches Syndrom“ und arbeitet unter dem Stichwort „Train the brain“ an innovativen Therapiekonzepten. Als junger Student gewann er den Bundeswettbewerb Mathematik und verbrachte 1986 bis 1989 sein Postdoktoranden-Stipendium am Hospital for the Sick Children, Toronto/Kanada. 1997 erhielt er den Silvia-King-Preis der Deutschen Diabetes Gesellschaft und wurde 2002 Leitender Oberarzt des Bereichs Endokrinologie und Diabetologie in Lübeck. 2006 folgte die Berufung zum Universitätsprofessor für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie an der Universität Lübeck.

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 7 / 10.04.2010