Herzraten-Variabilität: Subjektives objektiviert

15.07.2010 | Medizin

Vor allem bei Patienten mit der Fragestellung „Stressbelastung“ sowie bei unklaren subjektiven Beschwerden kann die Messung der Herzraten-Variabilität diagnostisch einen Schritt weiter bringen.
Von Eveline Hecher

Prinzipiell handelt es sich bei der „Herzraten-Variabilität“ (HRV) um den Abstand zwischen den R-Zacken im EKG, der bei „Herzgesunden“ zwar auf den ersten Blick regelmäßig erscheint, jedoch auch bei einem ordnungsgemäßen Sinusrhythmus Irregularitäten aufweist. „Bei genauer Betrachtung der Frequenz im Millisekunden-Bereich sieht man, dass auch bei einem normalen Rhythmus Unregelmäßigkeiten vorhanden sind“, erklärt Doris Eller-Berndl, Internistin aus Wien. Der Körper muss sich je nach Anforderungen wie zum Beispiel Atmung oder Lagerungswechsel an verschiedene Gegebenheiten anpassen, was sich in der Herzraten-Variabilität äußert, funktionell aber auch sinnvoll ist: Der Sinusknoten gibt sozusagen einen starren Rhythmus vor, welcher aber vom Vegetativum beziehungsweise hormonellen Funktionskreisen moduliert wird. Durch das Messen der HRV kann nun das „vegetative Gleichgewicht“ zwischen Sympathikus und Parasympathikus objektiviert und so als diagnostisches Mittel eingesetzt werden.

Die genaue Analyse der HRV erfolgt mithilfe eines 24-Stunden-EKGs, wobei die R-Zacken Abstände im Millisekundenbereich, nämlich mit einer vorgeschriebenen Abtastrate von mindestens 1000 Tastungen pro Sekunde (oft auch bis zu 4000 – 8000), gemessen werden. Der Herzfrequenz-Trend im 24-Stunden-EKG zeigt zwar bereits die Regulation durch das autonome Nervensystem an, wird durch viele Oszillationsüberlagerungen jedoch chaotisch dargestellt. Daher wird im Anschluss eine mathematische Frequenzanalyse durchgeführt, in der die Ausprägungen aller Oszillationen veranschaulicht werden. „Traditionellerweise wird die gesamte 24-Stunden-Messung in fünfminütige Abschnitte unterteilt, von dem sich jeweils ein Spektrum errechnet“, erklärt Eller-Berndl. Durch Aneinanderreihung sämtlicher Spektren entsteht im Endeffekt das HRV-Bild, auch „HRV-Spektrogramm“ genannt. Dadurch können sämtliche Einflüsse auf die Herzfrequenz auch für den Patienten sichtbar gemacht werden, wobei dem Patienten anhand des Bildes das Problem erklärt und veranschaulicht wird. „Je nach Frequenzbereichen weiß man, ob seitens des vegetativen Nervensystems eher der Parasympathikus oder Sympathikus dominiert beziehungsweise ob ein Mischbereich vorliegt“, erklärt die Expertin weiter.

Unterschiedliche Parameter

Die Zahlen, die bei den Messungen gewonnen werden, sind vor allem für die Statistik und Studien sehr nützlich. Unterschieden wird zwischen zeitbezogenen Parametern, die mithilfe von Mittelwert und Standardabweichung die Intervalle der Herzaktionen näher beschreiben, und frequenzbezogenen Parametern, aus dem das vorhin beschriebene HRV-Spektrogramm hervorgeht. Bei dem sogenannten pNN 50-Wert handelt es sich um einen berechneten Wert, der vor allem Auskunft über die parasympathische Aktivität gibt und zeigt, dass eigentlich der Parasympathikus der wichtigere des autonomen Nervensystems ist. Als myelinisierter und somit schnell leitender Nerv bremst er nämlich den Sympathikus: Im Alter, bei pathologischen Herz-Kreislaufzuständen, bei einem Myokardinfarkt oder chronischen Stresszuständen wird jedoch speziell der Parasympathikus geschwächt, wodurch der Mensch biologisch schneller altert.

Dauert die Stressbelastung nur wenige Monate, kann sich der Parasympathikus erholen, da er noch genug Kraft hat, um sich einzuschalten. Dies äußert sich vor allem in Tagesmüdigkeit, was aber noch als Zeichen für eine ausreichende parasympathische Funktion gewertet wird. Dauert die Stressbelastung über Jahre, schafft dies der Parasympathikus jedoch nicht mehr, und sogar die Erholungsphasen während der Nachtstunden versagen. Bei Messung der HRV, die bei pathologischen Zuständen reduziert ist, kann man nun anhand der Veränderungen erkennen, wie sehr der Parasympathikus geschädigt ist. Daraus lässt sich beispielsweise auch herauslesen, ob die nächste Stufe – ein Burnout – droht: Nach Zusammenbruch des Parasympathikus kommt es durch die resultierende Dominanz des Sympathikus letztlich auch zu dessen Ausfall. Die Veränderungen sind jedoch weitreichend: Aus den großen kardiologischen Studien der 1980er und 1990er weiß man nämlich, dass eine reduzierte Herzraten-Variabilität ein unabhängiger Prädiktor für die kardiovaskuläre Mortalität ist.

Fragestellung Stressbelastung

Hauptindikation für Messung der Herzraten-Variabilität sind vor allem Patienten mit der Fragestellung „Stressbelastung“ beziehungsweise unklare subjektive Beschwerden. „Es kommen Leute, die zusammenbrechen, aber internistisch und neurologisch ohne Befund sind“, berichtet die Internistin. Bei der HRV stellt sich dann oft heraus, dass es sich um ein Burnout-Syndrom handelt, weil die HRV eine der wenigen Methoden ist, die diese Erkrankung objektiviert. „Habe ich mittels HRV den Hinweis auf ein Burnout-Syndrom, kann dieses noch mit Laborwerten wie niedrigem DHEA, Noradrenalin/Adrenalin-Rate untermauert werden. „Meistens korrelieren diese Befunde auch ganz gut“, erklärt die Expertin weiter.

Die Objektivierung von subjektiven Beschwerden ist auch Gerd Oberfeld, Referent für Umweltmedizin der ÖÄK, ein großes Anliegen. „Die HRV ist eine sehr gute Möglichkeit, um Stress beziehungsweise den Einfluss von Stressoren zu objektivieren, wodurch den Patienten auch mehr Glaubwürdigkeit bezüglich ihrer Beschwerden geschenkt wird“. Dabei ist sich Oberfeld sicher, dass das Einsatzgebiet der HRV ausgeweitet werden kann. Gerade wenn es um Umwelt- oder Arbeitsplatzeinflüsse auf den Menschen geht oder um Störungen im Wohnbereich: „Bei einer Patientin, die an intermittierenden Schlafstörungen litt, wurde mithilfe der HRV-Messung gezeigt, dass Änderungen der HRV im Sinn einer Stressreaktion innerhalb einer Nacht mehrfach mit der zeitgleichen Einschaltung eines Haushaltsgerätes auftrat“, erklärt Oberfeld. Weiters wurde in mehreren Zeit-Reihen-Analysen eine Abnahme der HRV bei zunehmender Feinstaubbelastung (PM2,5) beobachtet. Auch bei der Exposition gegenüber elektromagnetischen Feldern wie zum Beispiel gegenüber DECT-Basisstationen (Schnurlostelefon), WLAN (Funkinternet) kann die HRV zur Objektivierung von Zusammenhängen eingesetzt werden.

„Alles was mit schlecht schlafen zu tun hat, ist ohnehin eine große Indikation für eine HRV-Analyse“, bekräftigt Eller-Berndl. Dabei ist oft gar keine 24-Stunden-Messung notwendig, sondern eine 12-Stunden-Messung während der Nacht. Die Indikationsstellung kann bis zum obstruktiven Schlafapnoe-Syndrom gehen, da mithilfe einer mathematischen Formel über die HRV ein Atemsignal errechnet werden kann. Dies erklärt sich daraus, dass die Atmung den Herzvektor beeinflusst, der bei Inspiration steiler wird. Im EKG äußert sich diese Steilstellung in einer größeren Amplitude der R-Zacke, deren Veränderung schließlich zur Berechnung des Atemsignals dient. „Natürlich ersetzt das nicht die Analyse im Schlaflabor, kann jedoch als Screeningmethode angewandt werden“, erklärt Eller-Berndl.

Stärkung des Parasympathikus

Je nach Herzraten-Variabilität wird entschieden, welche Therapie erforderlich ist, ohne das Vegetativum weiter zu belasten.Im Vordergrund steht jedenfalls die Stärkung des Parasympathikus, was je nach Schweregrad auch mit Ausdauertraining geschehen kann. Wäre dies bei Patienten mit Burnout unangebracht, ist speziell bei Diabetikern regelmäßiges Training angesagt, weil dies den Krankheitsverlauf verzögert. Die meisten kardiologischen Medikamente wie etwa RAAS-Hemmer oder Betablocker fördern ebenfalls den Parasympathikus. Werden Patienten mit derartigen Medikamenten therapiert, kann die HRV-Messung dazu genutzt werden, die vorhandene Therapie zu evaluieren. „Hat jemand z.B. einen schlechten Parasympathikus trotz Betablocker, weiß man, dass gerade der Betablocker notwendig ist“, so Eller-Berndl.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 13-14 / 15.07.2010