Gewalt gegen Kinder: Die kleinen Opfer

25.02.2010 | Medizin


Gewalt gegen Kinder

Die kleinen Opfer Jährlich werden in Österreich 1.200 Fälle von Gewalt gegen Kindern bei Gericht angezeigt; die Dunkelziffer liegt um ein Vielfaches höher. Je jünger die Kinder sind, umso häufiger sind sie Opfer von Gewalt-Attacken. Von Katrin Rupp  

Auch in Österreich sind täglich Hunderte Kinder zu Hause unterschiedlichen Formen von Gewalt ausgesetzt. Dazu zählen nicht nur körperliche Gewalt und sexuelle Übergriffe, sondern auch seelische Gewalt und Vernachlässigung sowie Mischformen. Je jünger die Kinder dabei sind, desto häufiger kommt es erfahrungsgemäß zu Gewalt – zum überwiegenden Teil erfolgt dies nicht vorsätzlich, sondern weil die Eltern überfordert sind. Abgesehen davon, dass sich diese jungen Opfer nicht wehren können, sind sie meist schutzlos der Willkür in der Regel eines Elternteils ausgeliefert. Um solche Fälle rechtzeitig zu erkennen und künftig zu verhindern, sind speziell auch die Ärzte gefragt, die diese Patienten oft behandeln. „Es geht nicht nur darum, die Ursache einer Verletzung zu erfragen, sondern im Rahmen der Differentialdiagnose zu überprüfen, ob die Geschichte des Kindes wie des Erwachsenen plausibel ist und ob sie mit den Ergebnissen von Röntgen, CT oder MRI zusammenpasst. Gibt es diese Möglichkeit nicht vor Ort, sollte das Kind zur Klärung an eine Klinik mit entsprechender Ausstattung überwiesen werden“, empfiehlt Univ. Prof. Leonhard Thun-Hohenstein, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Christian-Doppler-Universitätsklinik in Salzburg. „Wichtig ist es in jedem Fall, bei Verdachtsmomenten hellhörig zu werden. Nicht selten liefert auch der junge Patient Hinweise dazu, etwa indem er sich bei den Untersuchungen auffällig verhält.“

Wie schwierig diese Problematik und wie groß die Scheu ist, als Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Eltern ihr Kind misshandeln, kann Ulrich Lips, Leiter der Kinderschutzgruppe und Opferberatungsstelle im Kinderspital Zürich, nachvollziehen: „Nichts sehen und hören zu wollen, ist normal. Allerdings sollte man nicht die Augen davor verschließen. Eine Kindesmisshandlung hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes und das ganze zukünftige Erwachsenenleben. Zum Schutz des Kindes ist Hilfe dringend notwendig.“ Bei den (Kinder-) Gewaltfällen an dieser Klinik liegt der Anteil der misshandelten Kinder unter sieben Jahren bei 50 Prozent und jener der Kinder unter zwölf Jahren bei 75 Prozent.

Ein Einzelfall? Leider nein, wie Thun-Hohenstein bestätigt, der auch Leiter der Kinderschutzgruppe Salzburg ist. „Auch wenn manche Ärzte glauben, an ihrer Klinik gebe es keine solchen Fälle, zeigen internationale Studien ein ganz anderes Bild. Demnach kann man davon ausgehen, dass ein bis eineinhalb Prozent aller stationär an einer Klinik aufgenommenen Kinder Opfer von Gewalt sind beziehungsweise waren.“

Seit Mitte der 1990er Jahre gibt es an österreichischen Krankenanstalten so genannte Kinderschutzgruppen, die als Konsiliargremium der einzelnen Stationen zur Beratung von Ärzten eingerichtet wurden und Empfehlungen abgeben. Initiatoren waren die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde, die Österreichische Gesellschaft für Kinderchirurgie sowie das Jugend- und Familienministerium. Im Jahr 2004 wurden diese inzwischen rund  50 Kinderschutzgruppen für alle Kinderkliniken und Krankenhäuser gesetzlich vorgeschrieben.

„Laut Paragraph 54 des Ärztegesetzes besteht die Ärztepflicht darin, eine Verletzung der Jugendwohlfahrt zu melden und/ oder anzuzeigen. Zum Wohl des Kindes kann eine Anzeige auch aufgeschoben werden, bis aufgrund von Untersuchungen der Verdacht bestätigt und eine Gewalttat nachgewiesen oder ausgeschlossen wurde“, erklärt Thun-Hohenstein. Als Arzt sollte man nie etwas allein unternehmen, sondern sich Rat über die weitere Vorgehensweise etwa bei einer Kinderschutzgruppe holen. Die Überweisung an eine Klinik bietet die Möglichkeit, ganz objektiv eine Verletzung abklären zu lassen und Kontakt zu sozialen Diensten (Jugendwohlfahrt) sowie kinder- und jugendpsychiatrischen Diensten aufzunehmen. Das bestätigt auch Lips, dessen Kinderschutzgruppe Zürich bereits seit 40 Jahren tätig ist: „In der ersten Wut oder Emotion kann man blind sein und falsch reagieren. Besser ist es daher, sich Rückendeckung auf professionellem Niveau zu holen, um Fehlschlüsse oder falsche Verdächtigungen auszuschließen.“ Um medizinischem Personal eine Orientierungshilfe zu geben, wurde 2008 vom Bundesministerium für Gesundheit in Zusammenarbeit mit den Kinderschutzgruppen ein Leitfaden für die Kinderschutzarbeit in Gesundheitsberufen herausgegeben (Download unter: www.bmg.gv.at und www.kinderrechte.gv.at). Er soll helfen, Gewaltsymptome leichter zu erkennen und bei der Dokumentation der Befunde unterstützen.

Formen der Gewalt

In den meisten medizinischen Studien sowie jenen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird auf die verschiedenen Formen der Gewalt hingewiesen. Was die Häufigkeit betrifft, ist der Anteil der Vernachlässigung (40 bis 50 Prozent) am höchsten, gefolgt von körperlicher Gewalt (25 Prozent), seelischer Gewalt (drei bis 25 Prozent), sexueller Gewalt (zehn Prozent) sowie Mischformen (15 Prozent). 


Warnzeichen für Misshandlung

• Körperliche Gewalt: zum Beispiel Verzögerung zwischen Verletzungszeit und Besuch beim Arzt; Erklärungen, die nicht zur Verletzung passen beziehungsweise sich widersprechen; Verweigerung/Ärger bei genauerer Ausführung des Verletzungshergangs.

• Seelische Gewalt: Durch mangelnde Interaktion, Zurückweisung, ständige Kritik oder unrealistische Erwartungen verändert sich der emotionale Zustand des Kindes (etwa zurückgezogen, depressiv, wenig Interaktion, verhaltensauffällig wie Aufmerksamkeit suchend, oppositionell oder aggressiv).

• Vernachlässigung: andauernde oder wiederholte Unterlassung fürsorglichen Handelns der Eltern – ist oft von seelischer Gewalt schwer zu unterscheiden und mit anderen Gewaltformen verknüpft.

• Sexuelle Gewalt: zum Beispiel direkte Veränderungen im Genitalbereich, Blutungen, Verhaltensauffälligkeiten (selbstverletzendes, aggressives oder sexualisiertes Verhalten), psychosomatische Beschwerden wie Bauch-, Kopf- oder Gliederschmerzen. 


Was der Arzt tun kann

• Das Wohl des Kindes in den Vordergrund stellen. In der ärztlichen Versorgung steht das betroffene Kind im Vordergrund, nicht das Gewaltproblem. Erst nach der medizinischen Hilfe geht es um die Aufdeckung der Gewalt.

• Nicht in Aktionismus verfallen. Weil das Wohl des Kindes im Mittelpunkt steht, für das Sie parteilich eingreifen, ist ein besonnenes Vorgehen wichtig.

• Eigene Bewertung und Einstellung klären. Bleiben Sie dem Kind gegenüber auch bei Misshandlung oder Missbrauch unbefangen, entsetzte oder empörte Äußerungen wie „Das ist ja schrecklich, was dir angetan wurde!“ helfen nicht weiter. Wichtig ist, dem Kind ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Auch das Verhalten gegenüber den Begleitpersonen sollte freundlich sein, auf Vorwürfe oder Vorurteile verzichtet werden.

• Eigene Möglichkeiten und Grenzen kennen. Opfer von Gewalt, aber auch die ganze Familie können hohe Erwartungen an die Ärztin oder den Arzt haben. Hier müssen rechtzeitig die eigenen Möglichkeiten und Grenzen deutlich gemacht werden, um Versprechen nicht zurücknehmen zu müssen und Vertrauen zu zerstören.

• Mit anderen Hilfseinrichtungen zusammen arbeiten. Es ist in der Regel nicht möglich, einen Fall von familiärer Gewalt allein zu behandeln und das Problem des Kindes zu lösen. Den Ärzten kommt hier in erster Linie die Rolle von Initiatoren und des ärztlichen Begleiters für das Kind und die Familie zu. Gute Netzwerke vor Ort sind daher unerlässlich.

Quelle: Hamburger Leitfaden für Arztpraxen: Empfehlungen für den Umgang mit Gewalt an Kindern  

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 4 / 25.02.2010