Gesundheitswesen in den USA: Amerika gehen die Ärzte aus

25.11.2013 | Politik

Rund sieben Millionen Patienten werden schon unmittelbar nach dem Inkrafttreten der Gesundheitsreform zu Ärzten kommen und Kliniken aufsuchen; insgesamt erhalten rund 30 Millionen Patienten Zugang zum System. Doch es fehlt an Ärzten, um die neuen Versicherten zu versorgen. Von Nora Schmitt-Sausen

Je näher die Einführung der verpflichtenden Krankenversicherung rückt, desto lauter werden die Stimmen derer, die davor warnen, dass das US-amerikanische Gesundheitswesen dem Patientenansturm nicht gewachsen ist. Sieben Millionen neue Patienten sollen allein in den ersten Monaten nach Inkrafttreten der Reform zu Ärzten kommen und Kliniken aufsuchen, formuliert Gesundheitsministerin Kathleen Sebelius das Ziel. Es gibt Einrichtungen, die davon ausgehen, dass sie ab Januar 2014 doppelt so viele Patienten versorgen müssen wie bisher. Doch viele wissen noch nicht, mit welchem Personal dies geschehen soll. Medien und Ärztevertreter sprechen bereits von einer „nationalen Krise“.

Die Gesundheitsreform entfaltet ihre volle Kraft zu einem Zeitpunkt, zu dem das US-amerikanische Gesundheitswesen ohnehin bereits an seine Grenzen stößt. Der demographische Wandel übt in vielfacher Weise Druck auf das System aus. Die US-Gesellschaft wächst wie kaum eine andere Industrienation. Lebten 1990 noch weniger als 250 Millionen Einwohner in den USA, sind es heute mehr als 315 Millionen Menschen. Dazu erreicht die „Baby Boomer Generation“ nach und nach das Rentenalter – und hat einen erhöhten Versorgungsbedarf. 15 Millionen zusätzliche Senioren müssen in den kommenden zehn Jahren medizinisch versorgt werden. Parallel zum steigenden Bedarf geht eine große Zahl von Ärzten in den Ruhestand. Schätzungen besagen, dass die USA innerhalb der nächsten zehn Jahre ein gutes Drittel ihrer Ärzte aus Altersgründen verlieren werden. Die Physician Foundation rechnet gar vor, dass fast die Hälfte der derzeit 830.000 USÄrzte älter als 50 Jahre ist.

Die nachkommenden Ärzte können diesen Ausfall nicht kompensieren. Seit vielen Jahren hat sich die Anzahl derer, die dem Gesundheitsmarkt fertig ausgebildet zur Verfügung stehen, kaum verändert. Zwar nehmen die Medical Schools seit einigen Jahren mehr Studenten auf und neue Schulen wurden aufgebaut, doch für den abschließenden Teil der Ausbildung, das Residency Program, fehlen Plätze. Der Grund dafür liegt auf der Hand: die Finanzierung. Der praktische Ausbildungsteil der Ärzte wird zu weiten Teilen mit staatlichen Mitteln finanziert und diese Mittel sind seit 1997 eingefroren. Ein Ausbildungsplatz verschlingt Kosten von bis zu 100.000 Dollar jährlich.

Die „Association of American Medical Colleges“ (AAMC) prognostiziert, dass in den USA in zwei Jahren um 63.000 Ärzte weniger praktizieren werden als das Land benötigt. Im Jahr 2020 werden 91.500 Ärzte fehlen, 2025 bereits mehr als 130.000. Gesundheitsexperten schlagen Alarm. „Wir sind sehr besorgt, dass wir 30 Millionen Patienten Versicherungskarten aushändigen, aber nicht die Ärzte haben, um sie zu behandeln“, sagte AAMC-Chef-Advocat Dr. Atul Grover unlängst dem US-Nachrichtensender NBC. Besonders für die hausärztliche Versorgung fehlen Ärzte.

Das Thema Ärztemangel hat inzwischen auch die US-amerikanische Politik erreicht. Der Kongress in Washington hat sich des Themas angenommen. Es steht eine Forderung im Raum, in den kommenden fünf Jahren 15.000 neue Residency-Plätze zu finanzieren. Mit einer schnellen Entscheidung rechnet allerdings niemand.

Die Obama-Regierung plant bislang nicht, die Kapazitäten für die praktische Ausbildung zu vergrößern. Sie konzentriert sich stattdessen auf den Ausbau von sogenannten „Community Health Center“. Diese Non-Profit-Einrichtungen sichern landesweit die medizinische Grundversorgung für Patienten, die in sozial schwachen und unterversorgten Gebieten leben. 20 Millionen Patienten werden bereits mit Hilfe der Health Center betreut. Einen weiteren Weg sieht die Regierung in der Förderung des etablierten „National Health Service Corps“. In den Ausbau des Programms hat die Regierung in den vergangenen Jahren kräftig investiert. 10.000 Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger des Service Corps betreuen nach offiziellen Angaben 10,5 Millionen Patienten – so viele wie noch nie zuvor. Das Besondere: Das medizinische Personal erhält von der Regierung finanzielle Anreize wie Ausbildungs-Stipendien oder Sonderkonditionen bei der Rückzahlung von Studienkrediten. Im Gegenzug müssen sie sich verpflichten, zwei oder mehr Jahre in unterversorgten Regionen zu arbeiten.

Über allen staatlichen Plänen schwebt das Damoklesschwert der Budgetkürzung. Die USA sind weiter hoch verschuldet, Demokraten und Republikaner streiten erbittert um Ausgabenkürzungen und die Gesundheitsreform ist bei den Konservativen weiterhin verhasst.

Viele Experten begrüßen die Initiativen von Obama, glauben aber nicht, dass sie ausreichen, um den künftigen Versorgungsbedarf zu decken. Die diskutierten Forderungen reichen von der Umstrukturierung des praktischen Ausbildungsteils, einer besseren Bezahlung für Allgemeinmediziner, dem stärkeren Einsatz von modernen Informationstechnologien und mehr Teamwork mit Schwestern, Pflegern und gar Optikern und Pharmazeuten, damit sich die Ärzte auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren können.

Ausweg „nurse practitioners“?

Eine der lautesten Forderungen ist der verstärkte Einsatz von gesondert ausgebildeten Krankenschwestern in der hausärztlichen Versorgung. Bereits in 16 Bundesstaaten dürfen diese „nurse practitioners“ Check-ups durchführen, diagnostische Tests anordnen und interpretieren. Verstärkt diskutiert wird auch, es Ärzten aus dem Ausland leichter zu machen, in den USA zu praktizieren. Bislang scheitern fast alle ausländischen Ärzte jedoch an den hohen Hürden, die das US-amerikanische Gesundheitswesen an sie stellt. Immer deutlicher tritt auch zu Tage, dass die traditionell hohen Studienkosten in den USA zu einem Problem werden. Ein Medizinstudent hat nach Ende seiner Ausbildung Schulden von bis zu 250.000 Euro. Um den Schuldenberg loszuwerden, entscheiden sich viele für besser bezahlte Spezialisierungen wie Kardiologie und Chirurgie statt für die Allgemeinmedizin.

Naturgemäß gibt es auch Stimmen, die behaupten, die USA hätten kein Problem mit dem Ärztemangel, sondern lediglich mit der Verteilung der ärztlichen Kapazitäten. Tatsächlich sind die Unterschiede in der Ärztedichte innerhalb der USA immens. Im Ostküstenstaat Massachusetts versorgen 415,5 Ärzte 100.000 Bürger. Im Südstaat Mississippi kümmern sich 176,4 Ärzte um die gleiche Anzahl von Menschen. Besonders in ländlichen Regionen gehört stundenlanges Warten oder weites Fahren für viele Patienten bereits jetzt zum Alltag.

Obamacare: Anlaufschwierigkeiten im Web

Seit Anfang Oktober 2013 ist sie online und sie funktioniert einfach nicht, die Website healthcare.gov. Mehr als 30 Millionen US-Amerikaner, die derzeit keine Krankenversicherung haben, sollten sich hier über die Möglichkeiten informieren können. Zunächst machte das Weiße Haus den Ansturm der Nutzer für die Störungen verantwortlich; später wurden jedoch auch Mängel bei der Software und beim Design der Website eingeräumt. Sogar US-Präsident Barack Obama erklärte Mitte Oktober, die Probleme seien „inakzeptabel“ und dürften „nicht beschönigt“ werden. Die zuständige Gesundheitsministerin Kathleen Sebelius entschuldigte sich bei einer Anhörung im Repräsentantenhaus für den chaotischen Start des Onlineportals zur Gesundheitsreform. Sie erklärte weiters, dass sie die Verantwortung für das „Debakel“ trage.

Die Internetseite healthcare.gov deckt insgesamt 36 Bundesstaaten ab; 14 Staaten haben eigene Versicherungsbörsen eingerichtet. Kernstück der im Jahr 2010 verabschiedeten Gesundheitsreform ist die Pflicht, bis 31. März 2014 eine Versicherungspolizze abzuschließen, sonst droht eine Strafzahlung.

Wegen der Haushaltskrise in den USA standen die Pannen bei der Internetseite zunächst im Hintergrund. Seit jedoch der Kongress Mitte Oktober das Schuldenlimit der USA erhöht und den Stillstand der Bundesverwaltung mit einem Übergangsbudget beendet hat, stehen die Probleme der Gesundheitsreform wieder zunehmend im Mittelpunkt.
APA

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 22 / 25.11.2013