Kommunikation und Selbstmanagement: Mut zum Nein

25.11.2019 | Medizin


Für sich selbst sorgen. Die eigenen Grenzen erkennen. In der Lage sein, auch einmal „Nein“ zu sagen. Vielen Ärzten fällt dies schwer. Dabei ist das von elementarer Bedeutung, um im ärztlichen Alltag in Balance zu bleiben. Von persönlicher Klarheit profitiert außerdem nicht nur der Arzt selbst: Sie kommt auch Patienten, Mitarbeitern und Kollegen zugute.
Nora Schmitt-Sausen

Ich schaffe es nicht, den Urlaubsantrag der Helferin abzulehnen, obwohl es mich in Teufels Küche bringt.“ Oder: „Es gelingt mir nur schwer, einem Patienten zu verdeutlichen, dass weitere Untersuchungen nicht notwendig sind.“ Oder: „Ich bringe es nicht über mich, die Behandlungsanfrage einer Nachbarpraxis abzulehnen, obwohl in meiner eigenen Praxis selbst alle Mitarbeiter längst auf Reserve laufen, mich eingeschlossen.“ – ‚Nein‘ denken, aber ‚Ja‘ sagen. Wer kennt das nicht?!

Im schlimmsten Fall kann die Folge des stetigen Ja-Sagens gravierend sein: Wenn Ärzte in ihrem stressigen Berufsalltag immer wieder an ihre Grenzen kommen und diese – oft mehr unbewusst als bewusst – überschreiten. Indizien dafür, dass eine Schieflage erreicht ist, gibt es viele: massiver innerer Widerstand gegenüber etwas oder jemandem. Wiederkehrende Wut, Ärger und Hilflosigkeit. Und: Erschöpfung oder gar Krankheit. Im schlimmsten Fall finden sich solche Ärzte irgendwann schließlich dort wieder, wo der Ausweg schwierig wird: im Burnout.

„Das Wort Burnout beinhaltet, dass da mal jemand gebrannt hat für das, was er tut“, erläutert Tina Greber, die Ärzte in punkto Kommunikation und Selbstmanagement coacht. Aber sie sagt auch: „Doch wenn es so weit gekommen ist, dann haben wir zu lange gewartet, für uns einzustehen, für uns zu sorgen.“ Denn: Die Verantwortung für sich und ihr inneres Gleichgewicht tragen Ärzte allein. „Dass viele Ärzte nicht für ihre Grenzen einstehen können, ist nicht das Problem eines anderen.“ Doch warum fällt es so schwer, Grenzen zu ziehen? Warum fällt das innere Ringen oft zu Ungunsten der eigenen Bedürfnisse aus? Warum erkennen wir nicht, dass das Limit der persönlichen Belastbarkeit erreicht ist? Oder noch schlimmer: Warum setzen wir uns darüber hinweg, selbst wenn wir bereits zu dieser Erkenntnis gelangt sind? Die Antwort: „Weil uns im Inneren abgespeicherte Überzeugungen davon abhalten“, sagt Trainerin Greber.

Solche inneren Überzeugungen, die meist irgendwo im Unterbewusstsein abgespeichert sind, können beispielsweise lauten: „Ich muss freundlich sein.“ – „Ich muss anderen helfen.“ – „Ich muss perfekt sein.“ – „Ich muss funktionieren.“ Und diese Überzeugungen prägen das Verhalten – an jedem einzelnen Tag. „Es sind über viele Jahre befolgte Glaubenssätze, die tief in uns verwurzelt sind“, erläutert die Expertin. Keine Frage: Glaubenssätze haben durchaus etwas Gutes. Sie können Menschen positiv antreiben, sie nach vorne bringen. Doch Greber warnt: „Ihnen blind zu folgen, stumpf nach ihnen zu handeln, hindert uns eben oftmals daran, dass wir uns abgrenzen und Nein sagen.“

Doch die Glaubenssätze allein sind es nicht, die das Leben manchmal schwer machen können. Hinzu kommt nicht selten der persönliche innere Kritiker. Wie viele der inneren Überzeugungen fußt auch er tief in der eigenen Vergangenheit. Aus ihm sprechen Erfahrungen, Prägungen und Muster aus Kindertagen. Der innere Kritiker nimmt sich kein Blatt vor den Mund: „Stell Dich nicht so an.“ „Das schaffst Du eh nicht.“ „Mensch, bist Du blöd.“ Jeder kennt die spitzzüngige Stimme in sich. Und jeder weiß: Die abwertende Kritik an sich selbst verunsichert, demotiviert, führt zu Selbstzweifeln. Und hindert uns häufig daran, auszusprechen, was wir eigentlich möchten. Konkret blockieren Ärzte im Arbeitsalltag Gedanken wie diese: die Sorge, jemanden zu verletzen; die Sorge, unbeliebt zu sein; die Angst vor aggressiven Reaktionen; die Angst, den eigenen Ansprüchen nicht zu genügen; die Angst vor Konsequenzen; das Ja-Sagen zur Konflikt-Vermeidung. Und so weiter. Und so weiter. Angst. Sorge. Konflikt. Es sind emotionale Beweggründe, die viele davon abhalten, sich klar zu positionieren. Angst, dass jemand der Praxis den Rücken zukehrt. Angst, den Kollegen im Stich zu lassen. Angst, die Mitarbeiter zu enttäuschen. Doch was das Problem dabei ist, bringt Greber klar auf den Punkt: „Angst hindert uns daran, für uns selbst zu sorgen.“

Doch was ist die Lösung? Greber rät, sich frei zu machen von diesen Emotionen. „Wir sind nicht für die Gefühle eines anderen verantwortlich. Gedanken wie: ‚Wenn der Patient jetzt enttäuscht ist, bin ich schuld‘, müssen Ärzte von sich weisen.“ Doch das ist einfacher gesagt als getan. Wie all das in die Tat umsetzen? Wie den Ausweg aus dem Nicht-Nein-Sagen-Können-Dilemma finden? Wie seine eigenen Grenzen erkennen und auch entsprechend danach handeln?

Persönliche Bedürfnisse erkennen

Schritt eins: Indem man in sich hineinhört, lernt, seine persönlichen Bedürfnisse zu erkennen, sich seiner Grenzen bewusst zu sein – und akzeptiert, dass viele Blockaden in einem selbst sitzen„Wenn ich weiß, womit ich mir im Weg stehe, ist mir bereits viel geholfen. Und dann kann ich an mir arbeiten – und für mich sorgen „, sagt Greber. Das bedeutet zunächst einmal: sich die eigenen Glaubenssätze bewusst machen, sie hinterfragen und dann neue, eigene Glaubenssätze bilden. Statt: „Ich darf keine Fehler machen.“ „Es ist normal, dass man einmal Fehler macht.“ Oder: „Ich mache meinen Job nicht gut genug“ wird zu „Ich mache es so gut wie möglich.“ 

Schritt zwei: Besser mit dem inneren Kritiker umgehen. Dies kann so klappen: Den inneren Kritiker in seine Schranken weisen, ihm Einhalt gebieten. Und das durchaus, indem man hin bestimmtes „Schluss jetzt. Es reicht“ zuruft, wenn das innere Ich mal wieder herumnörgelt. Sich selbst und seine Grenzen zu erkennen bedeutet also: auf eine Reise zu sich selbst gehen. Umdenken lernen. Und seine eigene Linie finden. Dies gelingt nicht über Nacht. Das Entdecken und Einhalten der eigenen Grenzen, das Kommunizieren der eigenen Grenzen – das ist ein Prozess. Denn das Finden der eigenen Linie hilft einem nicht nur persönlich – das neu gefundene, klare Ich kann auch anderen als Orientierung dienen. Denn: Persönliche Klarheit hilft nicht nur sich selbst, sondern auch den Menschen um einen herum. Etwa auch in der Führung einer Praxis und beim Umgang mit Mitarbeitern. Auch mit dem Blick auf fordernd auftretende Patienten sei es wichtig – und befreiend – dazu fähig zu sein, Dinge klar anzusprechen und auch einmal freundlich, aber bestimmt ‚Nein‘ zu sagen, statt es lediglich innerlich zu formulieren, aber nicht auszusprechen.

Doch ganz konkret: Wie gelingt es, Nein zu sagen? Zunächst einmal – auch wenn es etwas paradox klingen mag – indem man den Fokus im Gespräch auf sein Gegenüber legt und auf dessen Anliegen wertschätzend eingeht. Und in einem zweiten Schritt eine alternative Lösung anbietet, die zur Entspannung der Situation beitragen kann.

Erstes Beispiel: Eine Mitarbeiterin in der Ordination möchte kurzfristig den Freitag dieser Woche frei haben, um ihren Hochzeitstag zu feiern. An diesem Tag ist die Ordination personell aber schwach besetzt. Die Lösung: Die Mitarbeiterin bekommt ein ‚Nein‘ – und eine Lösung: Sie erhält den darauffolgenden Freitag frei.  

Zweites Beispiel: Ein Patient möchte unbedingt ein Antibiotikum haben, um schnell wieder fit zu werden. Der Arzt sieht dazu aber noch keine Veranlassung. Also erläutert er dies freundlich, aber bestimmt – und bietet eine Lösung an: Wenn es dem Patienten in zwei Tagen nicht besser geht, kann er sich das Rezept für das Antibiotikum in der Praxis abholen.  

Drittes Beispiel: Der Kollege bittet vehement, noch heute einen Patienten von ihm zu übernehmen. Das Wartezimmer der eigenen Ordination ist aber schon zum Bersten voll. Die Bitte muss höflich, aber konsequent abgelehnt werden – mit dem Angebot, den Patienten am darauffolgenden Tag anzusehen.
Schlechtes Gewissen?! Ärger?! Selbstvorwürfe?! Hilflosigkeit?! All dies sollte, braucht und darf beim „Nein“-Sagen keinen Raum bekommen. Greber formuliert sehr klar: „Ein Nein zu jemand anderem ist ein Ja zu mir.“


Fünf Fragen an Tina Greber


Warum fällt gerade Ärzten Nein-Sagen so schwer?
Der Arztberuf ist in seinem Ursprung ein Heil- und Helferberuf. Sie wollen helfen, und sie wollen für andere da sein. Und eben das steht für sie im Widerspruch zum Nein-Sagen. Denn in der allgemeinen Wahrnehmung bedeutet ein Nein Ablehnung – auch wenn das an sich nicht richtig ist. Nein-Sagen ist vielmehr Selbstfürsorge, die Klarheit schafft und für Verbindung sorgt. Es ist gut, Nein sagen zu können. Es ist aber nicht nur das Helfersyndrom, das vielen Ärzten im Weg steht. Es ist auch die Konkurrenzsituation. Viele Ärzte haben Angst, beispielsweise der Erwartungshaltung von Patienten nicht zu genügen. Sie sorgen sich, dass ihr Nein dazu führt, dass der Patient zur Nachbarpraxis abwandert.

Viele sehen im Ja-Sagen mehr Vor- als Nachteile. Was entgegnen Sie dieser Denkweise? Auf den ersten Blick stimmt es schon: Wenn ich Ja sage, bin ich augenscheinlich besser im Kontakt mit meinem Gegenüber. Das Verhältnis ist für den Moment konfliktfreier. Aber dieses ‚Bloß keinen Konflikt aufkommen lassen‘-Denken, dieser Wunsch nach Konfliktfreiheit und für den Augenblick Konsequenzen vermeiden wollen, ist eben nur ein augenscheinlicher Vorteil. Ein wirklicher Vorteil ist es nicht. Zudem bildet sich mit dem steten Ja-Sagen auch eine unbewusste Erwartungshaltung. Ich schreibe eine innerliche Rechnung der Art: Wenn ich jetzt Ja sage, dann sollst Du beim nächsten Mal auch Ja sagen. Enttäuschung ist da vorprogrammiert. Ja-Sagen, wenn ich auch Ja meine, ist natürlich völlig in Ordnung. Dann sind die Bedürfnisse von beiden Seiten befriedigt. Aber wenn ich Ja sage, doch Nein meine, sind sie es einseitig nicht.

Wie gelingt es, eingeschlichene Glaubenssätze zu erkennen? Es bedarf natürlich einer gewissen Selbstreflexion. Ich muss mir die Situationen verdeutlichen, in denen ich immer wieder ins Stolpern gerate und mich fragen, warum es mir nicht gelingt, Nein zu sagen. Welches Bedürfnis ist es, das mich dazu drängt, Ja zu sagen? Und andererseits: Welches Bedürfnis torpediere ich gleichzeitig damit? Was für Muster sind hinterlegt, wenn ich Ja sage, obwohl ich Nein denke? Was ruft mein innerer Kritiker mir in solchen Momenten zu? Meine Erfahrung ist, dass sich viele Menschen ihrer inneren Glaubenssätze schnell bewusst werden, wenn sie sich einmal etwas Zeit nehmen und in sich hineinhören.

Wie kann ich lernen, mich gegen meinen inneren Kritiker selbstbewusster zu behaupten? Zunächst einmal muss man sich darüber im Klaren sein, dass der innere Kritiker immer da ist. Er geht nicht weg. Und das ist auch gut so. Denn manchmal bewahrt er uns vor falschen Entscheidungen. Doch wenn uns der innere Kritiker immer wieder zuruft ‚Du bist doof‘ oder ‚Warum hast Du denselben Fehler denn jetzt schon wieder gemacht?‘, hilft es, sich ein inneres Stoppschild vorzustellen und ihm zu verdeutlichen, dass man seine Kommentare jetzt nicht hören will, weil man gute Gründe für seine Entscheidung hatte. Schlicht: Man sollte dem inneren Kritiker Paroli bieten. Und das kann man durchaus auch mal laut machen. Sich Bilder vorzustellen, hilft aber sehr, sehr gut, um eine solche Situation zu beenden. Ein weiterer Tipp ist, sich einmal vor Augen zu führen, was man gut kann. Zu betonen, wo die eigenen Stärken sind, fällt vielen schwer. Dabei zeigt sich genau dann, wie viel Gutes in einem steckt.

Und nun in den Arbeitsalltag: Welche praktischen Tipps helfen Ärzten, Nein zu sagen? Zunächst einmal gilt auch hier: Ich muss mir die Situation verdeutlichen, in der es mir nicht gelungen ist, Nein zu sagen und reflektieren, was mich davon abgehalten hat. Das ist eine immense Hilfe für das nächste Mal. Dann: sich Zeit zum Nachdenken lassen, entschleunigen und dann eine bewusste Entscheidung treffen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der alles immer schnell gehen muss. Dabei schadet ein ‚Ich muss einen Moment darüber nachdenken‘ niemandem. Das können nur einige Sekunden ein, ein paar Minuten oder die Mittagspause, die dazwischen liegt, bis man mit der Ordinations-Mitarbeiterin nochmal über ihren Wunsch nach Urlaub spricht. Unter gefühltem Entscheidungszwang eine schnelle Antwort zu geben, ist meist keine gute Idee. Es hilft zudem, Erfolge innerlich zu feiern. Sich innerlich dafür auf die Schulter zu klopfen, dass es in einer Situation gelungen ist, wertschätzend Nein zu sagen. Und nicht zuletzt empfehle ich: geduldig und liebevoll mit sich zu sein. Dinge, die sich über Jahrzehnte eingeschleppt haben, lösen sich nicht von heute auf morgen. Es ist ein Prozess.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 22 / 25.11.2019