Ernährung bei chronischer Nierenerkrankung: Verlangsamung oder Beschleunigung

25.10.2021 | Medizin

Der Verlauf einer Nierenerkrankung kann durch die Ernährung nicht massiv verlangsamt werden; ungeeignete Ernährung jedoch kann den Verlauf beschleunigen. Für die Restriktion von Salz und Eiweiß gibt es nur schwache Evidenz; dennoch sollte darauf ebenso wie auch auf den Gehalt von Phosphat und Kalium geachtet werden.
Sophie Fessl

Von der großen Hoffnung der 1990er-Jahre, dass Ernährung die Progression von Nierenerkrankungen massiv verlangsamen kann, ist man mittlerweile eher abgekommen“, erläutert Univ. Prof. Sabine Horn von der Abteilung für Innere Medizin am Landeskrankenhaus Villach. „Es gibt Hinweise, dass der Verlauf einer Nierenerkrankung durch die Ernährung nicht massiv verlangsamt wird, aber durch ungeeignete Ernährung kann der Verlauf beschleunigt werden.“

Die Evidenz für Ernährungsempfehlungen bei chronischer Niereninsuffizienz seien weitgehend schwach oder mangelhaft zu bewerten, betont Univ. Prof. Marcus Säemann von der 6. Medizinischen Abteilung mit Nephrologie und Dialyse der Klinik Ottakring in Wien. „Ernährungsstudien bei Nieren-Patienten sind sehr schwer durchzuführen, da durch die vielen Einflussfaktoren kaum Evidenz für harte Endpunkte generiert wird. Generell haben die Empfehlungen einen niedrigen Evidenzgrad und die Datenlage ist alles andere als eindeutig.“ Konkrete Empfehlungen basieren zum Teil auf „Expert Opinion“ und klinischer Erfahrung, haben aber einen schwachen Evidenzgrad aus klinischen Studien.

Wichtig sei, so Horn, eine Malnutrition bei Patienten mit Nierenerkrankung unbedingt zu vermeiden, da Muskelmasse nicht abgebaut werden sollte. Hier gilt es, besonders auf ausreichende Eiweißzufuhr zu achten. „Ein kataboler Zustand ist ungünstig. Auch Dialyse-Patienten haben ein schlechteres Überleben, wenn sie abnehmen“, betont Horn. „Nur bei Transplant-Patienten sollte darauf geachtet werden, dass sie bei der Transplantation Idealgewicht haben.“

Die Reduktion des Eiweißgehalts in der Ernährung wurde in den 1990er-Jahren in größeren Studien untersucht. „Allerdings zeigte die größte Studie dazu keinen Benefit im Nierenfunktionsverlauf bei Patienten, die sehr wenig Protein zu sich nahmen“, erläutert Säemann. Basis für die Überlegung, Eiweiß einzuschränken, sei die Befürchtung, dass eine eiweißreiche Ernährung die glomeruläre Filtration steigern könnte und so dazu beiträgt, die Progression der Niereninsuffizienz zu beschleunigen. Weiters könne tierisches Eiweiß zu einer Übersäuerung führen, welche die Azidose bei niereninsuffizienten Patienten verschlechtern könnte, führt Horn aus. Eine strenge Einschränkung der Eiweißzufuhr sei trotzdem nicht zu empfehlen, betont Säemann. „Nachbeobachtungen zeigten Jahrzehnte später sogar ein Gefahrensignal in der Gruppe, die sehr wenig Protein erhielt, dass die Mortalität steigt.“

Als Eiweißquelle empfiehlt Horn hochwertiges Eiweiß aus Eiern und pflanzlichen Lebensmitteln. Eine rein fleischbasierte Eiweißzufuhr sei aufgrund der Produktion von organischen Säuren und dem hohen Phosphatgehalt nicht vorteilhaft. Bei älteren Patienten sollte außerdem darauf geachtet werden, dass der Proteinbedarf in höheren Lebensdekaden steigt. Auch bei dialysepflichtigen Patienten besteht ein höherer Bedarf an Eiweißzufuhr, da sie einem katabolen Zustandsbild unterliegen. Trotzdem sollten Exzesse vermieden werden, so Säemann: Während eine Zufuhr von 3g Eiweiß/Kilogramm Körpergewicht für Patienten mit Niereninsuffizienz nicht sinnvoll sei, würde eine Reduktion auf unter 1g Eiweiß/kg Körpergewicht die Gefahr von Malnutrition und Muskelabbau mit sich bringen. „Kleinster gemeinsamer Nenner“ der Empfehlungen sei, so Säemann, die Mittelmeerdiät mit präferiert pflanzlichem Eiweiß.

Kreatinin als Hauptbias

Ein „Hauptbias“ von Ernährungsstudien bei Patienten mit Nierenerkrankung ist die Messung des Kreatinins als Abbauprodukt der Muskeln. „Menschen mit starkem Muskelschwund haben daher einen niedrigen Serum-Kreatinin-Wert“, erläutert Säemann. „Eine Ernährung mit wenig Eiweiß führt also natürlich zu einem niedrigen Kreatinin-Wert.“ Dieser reflektiere aber nicht die Nierenfunktion, sondern die reduzierte Muskelmasse. Säemann weiter: „Kreatinin ist ein unzuverlässiger Marker zur Bewertung einer Ernährungs-Intervention, insbesondere hinsichtlich stark eiweißreduzierter Diäten.“

Eine weitere Empfehlung, für die zumindest schwache Evidenz existiert, ist die Reduktion des Kochsalzgehalts in der Ernährung. „Die Empfehlung zur Kochsalz-Einschränkung hängt mit dem Vorliegen von Bluthochdruck ab, der aber bei Patienten mit Nierenerkrankung oft besteht“, berichtet Horn aus der Praxis. „Patienten mit Nierenerkrankung sollten Kochsalz nicht exzessiv verwenden. Allerdings konnte nicht gezeigt werden, dass eine streng salzarme Diät die Progression verlangsamt.“

Prospektive Studien mit salzrestriktiver Ernährung waren laut Säemann nicht durchführbar, da die Einhaltung der Ernährungsempfehlung für die Patienten nicht möglich war. „Es gibt Hinweise, dass eine salzarme Ernährung beim Einsatz von ACE-Hemmern vorteilhaft ist, aber eine harte Endpunktstudie dazu gibt es nicht.“ Im Gegenteil: „Bei Nierengesunden und auch bei Menschen mit Diabetes gibt es Hinweise, dass eine Salzrestriktion mitunter auch gefährlich sein kann.“

Kaliumreduktion und Vorsicht bei Phosphaten

Weiters gelte es, eine zu hohe Zufuhr von Kalium zu vermeiden, da in den Stadien 4 und 5 der chronischen Niereninsuffizienz eine Hyperkaliämie problematisch werden kann. Allerdings kam es zu einer Abkehr von den Regeln einer strikten Kaliumrestriktion, da Obst und Gemüse, die gesunde sekundäre Pflanzenstoffe und Ballaststoffe enthalten, Kaliumquellen sind. „Es sollte eine mild kaliumreduzierte Ernährung vorgeschlagen werden möglicherweise in Kombination mit der Verschreibung von Kaliumsenkern, damit Patienten eine gesunde Ernährung zu sich nehmen können“, erläutert Horn.

In fortgeschrittenen Stadien einer chronischen Niereninsuffizienz tritt weiters eine Hyperphosphatämie auf. „Phosphat wird bei Niereninsuffizienz schlechter eliminiert. Aus Beobachtungsdaten ist bekannt, dass eine ausgeprägte Hyperphosphatämie mit schlechterem Überleben assoziiert ist“, berichtet Horn. Tritt eine Hyperphosphatämie auf, sollten Patienten daher über notwendige diätetische Anpassungen aufgeklärt werden. Der Einsatz von Phosphatbindern ist ebenso meistens notwendig.

Phosphat ist in industriell gefertigter Nahrung in großer Menge zugesetzt, kommt aber auch in Grundnahrungsmitteln wie Fleisch, Vollkornprodukten und Nüssen vor. Allerdings wird Phosphat nicht aus allen Nahrungsmitteln in gleichem Maße aufgenommen: Während Phosphat aus Nüssen nur wenig resorbiert wird, wird Phosphat aus Zusätzen in industriell gefertigter Nahrung fast zu 100 Prozent resorbiert. „Patienten müssen aufgeklärt werden, dass industriell gefertigte Nahrung wie raffinierte Produkte, fertige Backwaren oder Softdrinks vermieden werden sollten.“ Auch bei der Phosphatrestriktion bestehe allerdings ein Mangel an Studien, ergänzt Säemann.

Um übermäßigen Phosphatkonsum zu vermeiden, empfiehlt Horn einen Wechsel auf Alternativpräparate, um die Ernährungsumstellung für den Alltag praktikabel zu machen: etwa einen Verzicht auf Automatenkaffee mit stark phosphathältigem Kaffeeweißer, oder den Ersatz von Schmelzkäse-Produkten durch Frischkäse. „ Alles, was selbst zubereitet wird, ist für den chronischen Nierenerkrankten zu bevorzugen. Allerdings haben wir hier das Problem, dass viele Patienten älter und zunehmend nicht mit frischgekochtem Essen versorgt sind.“ Verarbeitete Phosphatquellen wie Softdrinks sind auch aufgrund ihres hohen Zuckergehaltes ungünstig. Säemann dazu: „Nachdem bis zu 50 Prozent der Dialyse- Patienten diabetisch oder prädiabetisch sind, ist der hohe Zuckergehalt von prozessierten Nahrungsmitteln für sie nachteilig.“

Schwerpunkt: pflanzliche Ernährung

Um eine metabolischen Azidose bei chronischer Nierenerkrankung zu reduzieren, könnte ein Schwerpunkt auf pflanzlicher Ernährung helfen, betont Horn, während Fleischkonsum zur Bildung organischer Säuren führt. Außerdem könne mittels Säurepuffer der Säurehaushalt ausgeglichen werden. „Untersuchungen zeigen, dass Patienten mit Niereninsuffizienz ihre Ernährungsgewohnheiten unbewusst verändern und der Fleischkonsum abnimmt“, berichtet Horn.

Die Ernährungsempfehlungen bei dialysepflichtigen Patienten entsprechen denen im fortgeschrittenen Stadium. Allerdings sollte aufgrund der verminderten Diurese zusätzlich auf die Wasserzufuhr geachtet werden. Flüssigkeitsreiche Speisen wie Suppen oder Kompotte sollten daher in die Flüssigkeitsbilanz der Patienten einfließen. Da sich aufgrund der Dialyse die Hyperkaliämie bessert, können bei einzelnen Patienten die Empfehlungen zur Kaliumzufuhr gelockert werden. „Besonders bei der Peritonealdialyse haben Patienten fast nie Kaliumprobleme“, berichtet Horn aus der Praxis.

Säemann plädiert dafür, die Ernährungsempfehlung bei Patienten mit Nierenerkrankung im Sinne einer Präzisionsmedizin zu individualisieren, da die Patienten abseits der Nierenerkrankung unterschiedliche Bedürfnisse haben. „Für einen übergewichtigen Patienten mit Prädiabetes und Nierenerkrankung müssen natürlich andere Empfehlungen ausgesprochen werden als für einen mangelernährten älteren Patienten, der etwa an einer Herzinsuffizienz leidet.“ Auch Horn unterstützt die Empfehlung, die Ernährungsberatung zu individualisieren. Als erster Schritt sollte ein Ernährungstagebuch über mehrere Tage geführt und so die aktuelle Ernährungssituation erhoben werden. „So wird gesehen, ob die Bedürfnisse des Körpers abgedeckt werden, welche Defizite bestehen und wo eine Veränderung notwendig ist“, betont Horn resümierend.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2021