Reizdarmsyndrom: Stress durch ‚Catastrophizing‘

15.12.2013 | Medizin

Bis zu 60 Prozent der Patienten mit einem Reizdarmsyndrom leiden zusätzlich an Depressionen, Angst oder chronischen Schmerzen. Ein wesentlicher Faktor ist die Interpretation der Beschwerden durch die Betroffenen: Angst und gesteigerte Aufmerksamkeit führen oft zum ‚Catastrophizing‘.
Von Marion Huber

Das Reizdarmsyndrom ist keine rein organische Erkrankung, sondern stark durch psychische Faktoren geprägt“, betont Gabriele Moser, Leiterin der Spezialambulanz für gastroenterologische Psychosomatik an der Universitätsklinik für Innere Medizin III am AKH Wien. Schätzungen zufolge sind rund 15 Prozent der Österreicher von dieser funktionellen gastrointestinalen Störung betroffen. Wie viele Menschen tatsächlich daran leiden, ist aber unklar. Denn die Prävalenzzahlen variieren in verschiedenen Studien je nach den dabei angewandten Diagnosekriterien und werden mit fünf bis 25 Prozent beziffert. Was die Daten aber belegen: Frauen sind häufiger betroffen als Männer. In den westlichen Industrieländern sind es zu zwei Dritteln Frauen, die wegen eines Reizdarmsyndroms einen Arzt aufsuchen. Anders in anderen Kulturen. „In Afrika ist das Verhältnis in etwa ausgewogen, in Indien dreht sich das Bild komplett um“, berichtet Moser.

Nicht nur aufgrund der unterschiedlichen Datenlage ist es schwierig, die Prävalenz genau zu erfassen, sondern auch deshalb, weil weniger als ein Drittel der Betroffenen einen Arzt konsultiert. Etwa 75 Prozent der Menschen mit Reizdarmsyndrom sind „Non-Patients“. „Jene Betroffene, die einen Arzt aufsuchen, tun das, weil ihr Leidensdruck schon besonders groß und ihre Lebensqualität sehr gering sind“, so die Expertin. Immerhin haben 38 Prozent der Reizdarm-Patienten in einer Spezialambulanz aufgrund ihrer psychischen Belastung und Einschränkung im Alltag Suizidgedanken. Ihre Lebensqualität ist signifikant schlechter als jene der Allgemeinbevölkerung – und sogar schlechter als bei Menschen, die an Migräne oder Asthma leiden.

Neben dem psychischen Leidensdruck verursacht das Reizdarmsyndrom auch erhebliche direkte und indirekte Kosten für die Gesellschaft – vor allem durch Arbeitsausfälle und verminderte Produktivität. So zeigen Studien aus den USA und Großbritannien, dass Berufstätige wegen eines Reizdarmsyndroms bis zu 24 Fehltage im Jahr anhäufen. „Auf die deutsche Bevölkerung umgelegt, ergeben sich jährlich 28,8 Millionen Fehltage, in Österreich etwas 2,8 Millionen“, erklärt Moser.

Zur Entstehung des Reizdarmsyndroms tragen neben biologischen Prozessen wie Entzündungen, genetische Vorbelastung, Nahrungsmittelintoleranz und gastrointestinale Infektionen auch psychologische Faktoren und Stress bei. Seit den 1990er Jahren ist bekannt, dass enterales und zentrales Nervensystem miteinander kommunizieren („Brain-Gut-Achse“). Bei Patienten mit einem Reizdarm-Syndrom ist das viszerale Schmerzempfinden erhöht. Studien konnten einen Zusammenhang zwischen der viszeralen Hypersensitivität mit einer erhöhten zerebralen Aktivität im Kortex feststellen; rektale Dehnungsreize aktivieren bei einem Reizdarmsyndrom vermehrt den anterioren zingulären Kortex. „Psychische Stress-Situationen, Traumata und Emotionen wie Angst modulieren die Wahrnehmung viszeraler Reize und können die viszerale Hypersensitivität auslösen und verstärken“, führt die Expertin aus.

Psychische Störungen sind bei Patienten mit Reizdarmsyndrom stark verbreitet: Bis zu 60 Prozent der Betroffenen leiden unter Depressionen, Angst, somatoformen Störungen, chronischem Distress, posttraumatischen Störungen oder chronischen Schmerzen. Bei bis zu 40 Prozent liegt außerdem sexueller Missbrauch vor. Auch die Interpretation der Beschwerden durch die Betroffenen sei ein wesentlicher Faktor der Erkrankung, wie Moser erklärt: „Oft entwickelt sich durch die Angst und gesteigerte Aufmerksamkeit der Patienten ein Teufelskreis, der im ‚Catastrophizing‘ endet.“

Diagnostiziert wird ein Reizdarmsyndrom gemäß den Leitlinien der Österreichischen Gesellschaft für Gastroenterologie und Hepatologie (ÖGGH) durch die typischen Beschwerden, die etwa in den Rome III-Kritierien festgelegt wurden, sowie den Ausschluss von relevanten Differentialdiagnosen. Neben der Anamnese führen die körperliche Untersuchung sowie Laboruntersuchungen wie etwa Blutbild, CRP und Stuhlkultur zur Diagnose. Bei herkömmlicher Untersuchung finden sich keine pathologischen Befunde.

Keine Standardtherapie

Ist die Diagnose Reizdarmsyndrom gestellt, gilt es, einen multimodalen Therapieansatz zu wählen. Biologische und psychosoziale Faktoren sollten gleichermaßen berücksichtigt werden, so Moser, denn „Standardtherapie gibt es keine“. Medikamente sollten lediglich bei Bedarf und Symptom-orientiert eingesetzt werden; in der Praxis sind das vor allem Spasmolytika, Probiotika, Antidiarrhoika, Laxantien, Prokinetika oder Antiemetika, insbesondere wenn eine individuelle Diät keine ausreichende Besserung bringt. Bei Patienten mit chronischen Schmerzen haben außerdem Antidepressiva wie SSRI (Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) und trizyklische Antidepressiva guten Erfolg im Hinblick auf die Veränderung der Schmerzschwelle gezeigt. Besondere Bedeutung kommt nach Ansicht von Moser aber der Aufklärung und Begleitung der Betroffenen zu. „Vielen Patienten hilft es enorm, wenn sie sich ernst genommen fühlen und der Arzt ihnen vermittelt, dass sie sich die Beschwerden nicht einbilden“, betont sie.

Als eine der wirksamsten Strategien in der Therapie erweist sich – verschiedenen Metaanalysen zufolge – die Psychotherapie, etwa in Form der kognitiven Verhaltenstherapie oder psychodynamischen Psychotherapie. Moser hebt hier die „Gutdirected Hypnotherapie“ besonders hervor. Damit können in Einzel- oder Gruppensitzungen die Reizdarm-Symptomatik reduziert und die viszerale Hypersensitivität normalisiert werden, wie in Studien gezeigt werden konnte.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 23-24 / 15.12.2013