Diabetische Retinopathie: Der Zucker im Auge

25.09.2013 | Medizin



Innerhalb der ersten fünf Erkrankungsjahre kommt es bei Diabetikern nur selten zu diabetischen Netzhautveränderungen; vermutlich ist die Dauer der Erkrankung der wichtigste Risikofaktor bei der Progredienz. Die Behandlung des Diabetes steht im Vordergrund, damit es nicht zu Glaskörperblutungen und Netzhautabhebungen kommt, die chirurgische Herausforderungen darstellen.

Von Irene Mlekusch

Obwohl die ersten sichtbaren Netzhautschäden als Komplikation eines Diabetes mellitus im Durchschnitt erst 15 Jahre nach Beginn der Erkrankung auftreten, empfiehlt Univ. Prof. Susanne Binder, Vorstand der Augenabteilung der Krankenanstalt Rudolfstiftung in Wien, eine ophthalmologische Untersuchung bereits nach der erstmaligen Diagnosestellung. Die Information des Diabetikers über die diabetische Retinopathie und deren Verlauf ist bereits in der symptomfreien Frühphase wichtig, da die multiplen pathologischen Prozesse auf Gefäßebene im Auge zu ganz verschiedenen Krankheitsbildern führen können.

Die häufigste Erkrankung ist die diabetische Retinopathie, die sich nach 20-jähriger Diabetesdauer bei etwa 95 Prozent der Typ 1-Diabetiker und rund 60 Prozent der Typ 2-Diabetiker entwickelt. Da es innerhalb der ersten fünf Erkrankungsjahre sowie präpubertär nur selten zu diabetischen Netzhautveränderungen kommt, geht man davon aus, dass der wichtigste Risikofaktor in Bezug auf die Progredienz, die Dauer des Diabetes mellitus darstellt. „Eine gut kontrollierte Blutzuckereinstellung ist wesentlich“, erklärt Binder und nennt als weitere Risikofaktoren schlecht eingestellte Hypertonie und Hyperlipidämie ebenso wie die systemischen Risikofaktoren Nephropathie, Adipositas und Anämie. „Auch hormonelle Umstellungen, wie sie in der Schwangerschaft und Pubertät stattfinden, können zu einer Progredienz der diabetischen Retinopathie führen“, erklärt die Expertin.

Somit steht an erster Stelle der Behandlung der diabetischen Netzhautveränderungen die Einstellung und Behandlung des Diabetes selbst. Nur im frühen Stadium der diabetischen Retinopathie ist es möglich, durch eine entsprechende Behandlung des Diabetes eine Progredienz zu vermeiden und das Sehvermögen langfristig zu erhalten. Auch Univ. Prof. Gerhard Kieselbach von der Universitätsklinik für Augenheilkunde und Optometrie in Innsbruck ist der Meinung, dass die Behandlung anfangen sollte, bevor schwerwiegende Schäden vorhanden sind. Ein stark erhöhter Blutzucker, ein HbA1c-Wert über sieben oder Blutzuckerschwankungen können ein Fortschreiten der Netzhauterkrankung begünstigen. „Wird der Kick-off überschritten, läuft die diabetische Retinopathie von selbst weiter und die Erkrankung erhält eine andere Dynamik“, berichtet Binder.

Grundsätzlich unterscheidet man zwischen nicht-proliferativer und proliferativer diabetischer Retinopathie sowie der diabetischen Makulopathie. Eine zunächst einmal jährliche Kontrolle beim Augenarzt mit Bestimmung der Sehschärfe, Messung des Augendrucks und binokulärer bimikroskopischer Spaltlampenuntersuchung sollte jedem Diabetiker nahegelegt werden. Im Frühstadium der diabetischen Retinopathie zeigen sich Mikroaneurysmen im Netzhautniveau. Schreitet die Erkrankung weiter fort, werden durch ausgedehnte retinale Ischämien biologisch aktive Faktoren produziert und in Retina und Glaskörper sezerniert. Sobald sich die ersten Neovaskularisationen an der Papille oder anderen Stellen im Auge zeigen, spricht man von der proliferativen Retinopathie, die eine wesentlich schlechtere Prognose hat. Glaskörperblutungen oder traktionsbedingte Netzhautablösungen stellen ebenso Komplikationen dar wie das Neovaskularisations-Glaukom. Sehverlust, Schmerzen oder gar der Verlust des Auges können die Folge sein. Meist wird der Sehverlust bei Patienten mit diabetischer Retinopathie durch ein Makulaödem oder eine Makula-Ischämie verursacht. In den weiter fortgeschrittenen Stadien beschreiben die Patienten Verschwommensehen, Verzerrtsehen oder eine diffus herabgesetzte Sehschärfe. Bei Glaskörperblutungen sehen die Betroffenen kleine, wandernde Punkte oder Fäden, die nur zu einer geringen Sehbeeinträchtigung führen. Massive Ausprägungen verursachen dagegen einen dramatischen Visusabfall. Die Patienten müssen über derartige mögliche Symptome aufgeklärt werden, um die Tragweite der Erkrankung erfassen zu können.

„Weltweit wird eine bessere Primärdiagnostik des Diabetikers angestrebt“, weiß Binder. Für Kieselbach liefert zusätzlich zur routinemäßigen ophthalmologischen Untersuchung besonders die optische Kohärenztomographie (OCT) beim diabetischen Makulaödem wichtige diagnostische Informationen. Vor allem zum Ausschluss von Differentialdiagnosen und Glaskörpertraktionen ist die OCT unerlässlich. Das Erkennen von Netzhautischämien ist der Fluoreszenzangiographie vorbehalten; damit ist auch die Lokalisierung von Neovaskularisationen möglich. Diese müssen sofort behandelt werden, wenn eine Sehverschlechterung vermieden werden soll. „Die OCT ersetzt die Fluoreszenzangiographie großteils immer mehr. Für spezielle Fragestellungen ist deren Einsatz aber weiterhin noch wichtig“, so Kieselbach.

Laser als Therapie

Die proliferative diabetische Retinopathie wird mittels Laserkoagulation behandelt. Zur Behandlung des diabetischen Makulaödems stehen die Laser-Photokoagulation, die intravitreale Applikation von Anti-VEGF oder langsam wirkenden Cortison- Implantaten, sowie eine Kombination von Laser und Injektionsbehandlung zur Verfügung. Vor allem die Injektionsbehandlung zeichnet sich durch einen raschen Wirkungseintritt aus; in Kombination mit der Laserbehandlung wird auch ein guter Langzeiteffekt erreicht. „Die Kombination der Behandlung führt zu keinem additiven Effekt”, weiß Kieselbach und macht darauf aufmerksam, dass bisher nur bei Gefäßverschlüssen standardisierte Therapien verfügbar sind. Die Anti-VEGFInjektion bezeichnet Kieselbach als first line-Therapie; die Laserbehandlung ist nur bei jenen Patienten möglich, deren Makula noch intakt ist. Mit der Vitrektomie stehen somit insgesamt vier verschiedene Behandlungen zur Verfügung, über deren Einsatz individuell entschieden werden muss. „Die Injektion von Cortison ins Auge macht beispielsweise nur bei einer speziellen Patientengruppe Sinn, denn auch die möglichen Nebenwirkungen wie Katarakt und Glaukom müssen bedacht werden“, betont Kieselbach. Daher sollte die intravitreale Cortison-Injektion Patienten vorbehalten sein, die nicht auf die Anti-VEGF-Injektionen ansprechen, eine Kunstlinse tragen und keinen erhöhten Augendruck aufweisen.

Vor allem bei Diabetikern, die zu spät zum Augenarzt gehen, kommt es zu schwerwiegenden Komplikationen der diabetischen Retinopathie wie Hämorrhagie, Netzhautabhebungen oder Rubeosis iridis, wie die Neovaskularisationen im vorderen Augensegment genannt werden. „Glaskörperblutungen und Netzhautabhebungen stellen chirurgische Herausforderungen dar“, verdeutlicht Binder. In vielen Fällen können die Patienten zwar vor einer Erblindung geschützt werden; sie bleiben aber sehbehindert. Kieselbach weiß aus Erfahrung, dass nach einer Behandlung die anatomischen Ergebnisse oft besser sind als die funktionellen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 18 / 25.09.2013